Caroline Eriksson: Die Vermissten

Caroline Eriksson: Die Vermissten

with Keine Kommentare

Gänsehaut ist hier garantiert – und dafür braucht man noch nicht einmal das Buch aufzuschlagen! Arm- und Nackenhaare stellten sich bei mir auf, als ich das Buch zum ersten Mal in die Hand nahm. Der Buchumschlag ist leicht angeraut. Uaw, ein haptisches Gruselerlebnis! War das wohl vom Verlag so intendiert?

Abgeschreckt hat es mich aber nicht. Anfangs dachte ich ja, ich wüsste, worauf ich mich einlasse. Der Klappentext beschrieb zwar nur die Ausgangssituation, die kam mir jedoch irgendwie bekannt vor. Der Plot erinnert leicht an Gillian Flinns „Gone Girl“ oder an Sebastians Fitzeks Werke („Gone Girl“ habe ich nicht ausgelesen, hat mich nicht mitgenommen, Fitzeks Bücher fand ich vorhersehbar).

Ein schönes Sommeridyll und ein oder zwei düstere Intrigen – der Kontrast könnte nicht größer sein. Greta, Alex und Tochter Smilla verbringen die letzten warmen Sommertage in einem Ferienhaus am See. Die meisten Feriengäste sind abgereist, der Ort ist nahezu verlassen. Zu dritt machen sie einen Bootsausflug, legen an einer verlassenen Insel an. Alex und Smilla gehen auf Entdeckungstour, Greta bleibt am Ufer zurück und wartet. Doch es kommt niemand zurück. Erst in leichter Sorge, dann immer verzweifelter sucht Greta die Insel ab, die beiden sind spurlos verschwunden. Wo sind sie? Was ist passiert? – Ja natürlich. Sie sind auf der versteckten Seite der Insel in ein anderes Boot gestiegen, zum Haus zurückgefahren und warten dort nun auf sie – ein simpler Streich! Diese und andere Erklärungen gehen ihr durch den Kopf. Ihr Ferienhaus steht aber leer. Kann ihr die Polizei vielleicht helfen?

Mehr vom Inhalt darf nicht erzählt werden, es soll ja spannend bleiben.

Ein entscheidendes Kriterium, warum ich das Buch nicht wie andere bekannte Psychothriller beiseitegelegt habe, ist die Perspektive. Für den Leser steht allein die Hauptfigur im Zentrum. Gedanken, Gefühle, alles ist einsehbar, verlässliche Informationen fehlen. Daher erkennt man erst spät, dass sie selbst nur eine Spielfigur ist. Mit jeder weiteren Seite wird das Bild klarer, der Schluss deckt alles auf und sortiert somit rückblickend die Ereignisse ein. Ich musste mehrmals meine Vermutung, wie es endet, neu aufstellen. Auf diesen Ausgang wäre ich niemals gekommen. Die Figurenperspektive beeinflusst den Leser somit enorm. Glaubt die Hauptfigur, es läge an ihr, sie habe den beiden vielleicht etwas angetan, glaubt man es auch. Das ist Manipulation vom Feinsten! Der Zweifel an Greta wird immer stärker, auch weil sie immer stärker an sich und ihrer Wahrnehmung zweifelt. Die Figur bröckelt, mit ihr die Hoffnung auf ein klares Ende. Die Auflösung kommt plötzlich, fast schlägt sie einem mit dem Ruder ins Gesicht.

Zwei Aspekte, die ich aus dem Buch mitgenommen habe, muss ich noch besonders herausstellen: Ein positives Gefühl (man bedenke, es ist ein Psychothriller!) hat bei mir folgender Gedanke hinterlassen: Egal, wie durchsichtig man auftritt, egal, wie wenig man sagt, schon ein einziges Wort, eine einfache Geste reicht bereits aus, den Gegenüber zu berühren, ihm in Erinnerung zu bleiben und vielleicht auch zu helfen, zu stärken, wieder aufzurichten und zu befreien. Greta hatte einen solchen Anker.

Das andere waren die Worte: „Ich bin die Tochter meiner Mutter.“ Eine Aussage, die die Parallelen zweier Leben offenlegt, u. a. das von Greta und ihrer Mutter. Es zeigt eine Verbindung, eine Tendenz, in welche Richtung das Leben ausschlägt – ist aber keine Vorbestimmung. Denn der Roman zeigt, man ist allein für sein Schicksal, für seine Zukunft verantwortlich. „Wo sie sich für Anpassung entschied, werde ich den Kampf wählen. Wo sie sich für Milde entschied, werde ich Festigkeit wählen.“

Fazit: Ein Psychothriller ganz anderer Art. Denn er wird euch tatsächlich überraschen.

Caroline Eriksson: Die Vermissten
272 Seiten, PENGUIN Verlag, 2016
ISBN: 978-3328100386