Jasna Mittler „Blau-Auge“

Jasna Mittler „Blau-Auge“

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Versteckt im Atelier ihres verstorbenen Vaters entdeckt Hanna zufällig einen wertvollen blauen Edelstein, der aus ihrer Region stammt und um den sich aufregende Geschichten ranken. Zeitgleich zu Hannas Nachforschungen über diesen besonderen Stein in Paris und beim Dorfchronisten gehen wir in die Zeit zurück und verfolgen über drei Jahrhunderte den Weg des Edelsteins Blau-Auge von Mendig in der Eifel über Laach nach Paris bis an die Kriegsfront sowie zurück in die Heimat Mendig. Verknüpft ist dieser Weg mit historischen Figuren, u. a. die Brüder René und Valentin Haüy, und den Vorfahren von Hanna selbst, die Bildhauerfamilie Peter Klopp. Jasna Mittler entwickelt Satz für Satz eine erstaunliche Familiengeschichte rund um den blauen Kristall.

Worum geht es?

Als Valentin Haüy die blinde Pianistin Therese Paradis zum ersten Mal spielen hört, entbrennt er in heller Liebe. Er schenkt ihr einen tiefblauen Kristall, den er eigentlich für seinen Bruder, den berühmten Mineralogen, aufbewahren soll. Doch der Stein bleibt nicht lange in Thereses Besitz. Er wird gestohlen, verkauft, verwettet und landet Jahrhunderte später in den Händen der Tochter des Bildhauers Peter Klopp in der Eifel.
Hanna ahnt, welchen Schatz sie entdeckt hat, und versucht herauszufinden, wie der Stein aus dem Besitz des französischen Mineralogen René Just Haüy in die Werkstatt ihres verstorbenen Vaters gelangen konnte. Ihre Nachforschungen führen sie nach Paris, tief in ihre eigene Familiengeschichte und zu einem Mann, der ihre Faszination teilt.
Jasna Mittlers Roman Blau-Auge verbindet reale historische Figuren und Ereignisse mit fiktionalen Elementen und erzählt eine Jahrhunderte überspannende Geschichte von Liebe, Verrat und Habgier. (Zusammenfassung des Verlags)

Wie fand ich es?

Jasna Mittler versteht es, die Gegenwart mit der Vergangenheit zu verknüpfen. Durch Hannas Ermittlungen im Jetzt baut sich Spannung auf, die im nächsten Kapitel durch einen Rückblick, eine historische Erzählung der Erkenntnisse, die Hanna aufgedeckt hat, verstärkt wird. Mit dem Blick in die Vergangenheit nimmt die Geschichte Kontur an und wird detailreicher. Das Zusammenspiel der Zeitebenen ist ausgesprochen geglückt und führt zu einem umfassenden Bild. An den Stellen, wo Hanna zunächst nur Vermutungen über das Leben ihrer Vorfahren anstellen kann oder wenn sie, ohne es zu wissen, an einem Ort steht, z. B. vor dem Stein mit einem gemeißelten Loch, an dem ihre Vorfahren gewirkt haben, werden die Ereignisse durch den Einblick in das Leben der historischen Figuren ergänzt. Mit jeder weiteren Seite kommen wir der Frage näher, wie der Stein 1813 in Paris verschollen gehen und heute in die Hände von Hanna fallen konnte. Zudem ist erstaunlich, wie nahe Hanna den historischen Begebenheiten mit ihrer eigenen Recherche kommt!

Ein weiterer Aspekt dieses Romans ist Hannas komplizierte Beziehung zu ihrem kürzlich verstorbenen Vater Peter Klopp. Aus Geldgründen soll Hanna, die drei Jahre zuvor die Bildhauerlehre bei ihrem Vater abgebrochen hat, die Statue von René Just Haüy für das örtliche Museum beenden. Zerfressen von Selbstzweifeln und „der alten Wut“ wagt sich Hanna an die Arbeit. Die kritischen und enttäuschenden Blicke ihres Vaters auf sich spürend beschäftigt sie sich mit der Statue und so auch mit sich selbst, mit ihrer mit Schuld beladenen Beziehung zu ihrem Vater und mit ihrer Trauer. Sehr einfühlsam schildert Mittler von der innigen, zugleich aber auch durch Konflikte geprägten Beziehung.

„Du bist eben die Tochter deines Vaters.“

Sagenumwobene Geschichten ranken sich um den Kristall L’oeil bleu, den Riesen-Haüyn, benannt nach dem Pariser Mineralogen René Just Haüy, dem der Kristall 1783 geschenkt wurde, um Unrecht wiedergutzumachen und das Dorf von Unheil zu befreien. (Als Leser*in erfährt man von den Zusammenhängen des Unglücks und muss schmunzeln, mit welchen Mitteln damals versucht wurde, das Wetter, vor allem die Hitze und den Schwefelgeruch ausgelöst durch einen Vulkanausbruch, zu beeinflussen.) Von dem Edelstein geht eine bestimmte Wirkung und Faszination aus, die sich in jeder Figur niederschlägt, die den Stein in Händen hält. Spannend ist zu ergründen, welchen Weg der Stein gegangen ist und welche menschlichen Abgründe vielleicht gerade durch ihn (?) entstanden sind: Neid und Missgunst sind gewachsen, Freundschaften sind zerbrochen, Diebstahl, riskante Wetten, Schmuggel, Betrug, Verrat, Totschlag und Mord sind von dem Edelstein motiviert. Ein Fluch?

„Der Traum ihrer Kindheit war wahrgeworden. Sie hatte einen Schatz entdeckt… Und nichts war gut – der Kristall brachte ihr weder Reichtum, noch brachte er ihren Vater zurück.“

Liebe wird bereits im Klappentext als eines der drei großen Themen angesprochen. Verrat und Habgier werden sehr ausführlich behandelt. Liebe taucht indessen nur selten auf. Die Figuren strahlen eher eine Sachlichkeit und Ernsthaftigkeit aus, sind bis auf Valentin Haüy eher kopflastig als gefühlsbetont. Da wurden Erwartungen geweckt, die leider nicht ganz erfüllt werden konnten.

Mittlers Sprachstil ist satt und kompakt und besticht durch überwiegend sachliche, informative Beschreibungen. Beeindruckend ist, wie sie dadurch ein genaues Bild jeder Szene zeichnet. Dies ist vor allem bei den vergangenen Zeitabschnitten sehr passend, so wird der*die Leser*in in die jeweilige Zeit versetzt. An einigen Stellen ist dies meiner Ansicht nach aber nicht notwendig. Da hätte die Autorin mehr Gewicht auf die Gefühlswelt der Figuren legen können. Sprachlich finde ich die Abschnitte in der Gegenwart etwas irritierend. Statt Hanna als junge Frau habe ich beim Lesen die Stimme einer alten Dame im Ohr. Der Sprache fehlt mir an diesen Stellen eine jugendliche Leichtigkeit, Lockerheit und Frische. Beispiel: Der Ausdruck „Fräulein“ hätte mich als Angesprochene doch sehr gestört (Diese Bezeichnung wird seit 1971 nicht mehr verwendet, gilt als respektlos, politisch unkorrekt!) und hätte mich zu einer Reaktion bewegt. Hanna übergeht diese veraltete Ansprache kommentarlos.

Was mich etwas unzufrieden zurücklässt, ist, dass einige Erzählstränge nicht auserzählt werden. Unklar bleibt, wie Hanna zu ihrem Jugendfreund Jakob steht und wie es mit dem Pariser Mineralogen André Forgeron weitergeht. Ob sie bei der Bildhauerei bleibt? Wer Peters Atelier verwüstet hat und ob der Schmuckhändler tatsächlich klein beigibt? Natürlich sollte nicht jeder Erzählstrang komplett abgeschlossen werden, gerade das würde die Leser*innen ja langweilen. Erfreut hätte mich jedoch, wenn Mittler zu einigen Fragen doch eine Andeutung, z. B. welchen Weg Hanna einschlagen könnte, oder sichtbare Hinweise eingebunden hätte.

Fazit

Spannende Erzählstränge, die durch die gelungene Kombination aus vergangenen Zeitabschnitten und Hannas Erlebnissen in der Gegenwart getragen werden. Auf jeder Seite wird die Akribie und Sorgfalt, die Jasna Mittler in ihrem Roman gesteckt hat, deutlich. Dieses Buch sollte jeder lesen, der sich für lokale historische Begebenheiten, für (fiktive) Verbindungen von historischen Figuren interessiert und auf Spurensuche nach einem Schatz gehen möchte.

Vielen Dank Jasna Mittler für den Austausch auf LovelyBooks, und ein Dankeschön an den Verlag Schruf & Stipetic für die Bereitstellung des Leseexemplars.

Blau-Auge

Jasna Mittler

Schruf & Stipetic, 306 Seiten, 8. Oktober 2021

ISBN: 9783944359618