Simon Beckett »Die Verlorenen«

Simon Beckett »Die Verlorenen«

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»Ein Superheld, der alle Fälle sofort löst oder ein Außenseiter mit Alkoholproblem und Affären wäre mir wie ein Klischee vorgekommen.«[1]

Als Leser*in sind wir oft zwiegespalten. Auf der einen Seite brauchen wir die heroischen Helden, die tugendhaft, tapfer, schön und stark sind. So können wir sie bewundern, deren Charakterzüge und Erfolg spiegeln oder unsere Wünsche auf sie projizieren. Reizvoll sind sie, weil sie das Gute in uns repräsentieren bzw. das darstellen, das wir anstreben.

Auf der anderen Seite steht der Gegenentwurf zu den positiven Helden, die Antihelden. Diese Hauptfiguren tragen oft passive, resignative, mutlose Züge. Sie isolieren sich, sind melancholisch oder geißeln sich selbst. Sie können sich aber trotz dieser Schwächen unter den widrigen Lebensumständen bewähren.[2] Diese Zerbrechlichkeit sowie ihr Aufrichten und Wiedererstarken machen die Antihelden sympathisch und ermöglichen eine Identifizierung.

In vielen Thriller- oder Krimireihen der letzten Jahre stoßen wir auf einige dieser Antihelden: Berühmt geworden sind Henning Mankells depressiver Kurt Wallander, Jo Nesbøs Alkoholiker Harry Hole, Jussi Adler-Olsens unorthodoxer Carl Mørck. Auch David Hunter aus Becketts erster Thrillerreihe gehört dazu. Nach dem Unfalltod seiner Frau und seiner Tochter verkriecht sich der forensische Anthropologe für einige Jahre in einem kleinen Dorf, bis er und seine Fähigkeiten wieder gefordert werden. Der neue Beckett ist weder Alkoholiker noch ein notorischer Fremdgänger. Sein Leben steht seit 10 Jahren auf der Pausetaste. Er kann sich einen Fehler, der sein ganzes Leben verändert hat, nicht verzeihen. Im Unterschied zur Figur David Hunter ist »Jonahs traurige Vergangenheit ein so wesentlicher Bestandteil der Geschichte […] und so wichtig für das, was in der Gegenwart passiert, während Hunters Tragödie in seiner Vergangenheit liegt«[3].

Worum geht es?

Jonah Colley ist Mitglied einer bewaffneten Spezialeinheit der Londoner Polizei. Seit sein Sohn Theo vor zehn Jahren spurlos verschwand, liegt sein Leben in Scherben. Damals brach auch der Kontakt zu seinem besten Freund Gavin ab. Nun meldet Gavin sich überraschend und bittet um ein Treffen. Doch in dem verlassenen Lagerhaus findet Jonah nur seine Leiche, daneben drei weitere Tote. Fest in Plastikplane eingewickelt, sehen sie aus wie Kokons. Eines der Opfer ist noch am Leben. Und für Jonah beginnt ein Albtraum…

Wie war es?

Beim Lesen der ersten Kapitel habe ich die Luft angehalten und die Augen aufgerissen, um ja nichts zu verpassen. Der Auftakt ist packend, Hochspannung pur! Beckett steigt direkt in die Handlung ein. Das Geschehen startet im Jetzt, ergänzt von Passagen, die 10 Jahre zurückgehen. Sein Schreibstil ist wie gewohnt flüssig, klar, nüchtern.

Im Vordergrund steht Jonahs innerer Konflikt. Er hat das Verschwinden seines Sohnes Theo noch nicht verwunden und muss im Verlauf der Geschichte erkennen, dass er nicht alles weiß über das, was seinem Sohn widerfahren ist. Stehen die Geschehnisse von vor 10 Jahren mit den heutigen in Verbindung? Was hat sein Freund Gaines herausgefunden? Da ihn die Polizei als Verdächtigen nicht ausschließen kann und er somit nicht in die Ermittlungen eingebunden wird, ermittelt er auf eigene Faust. Beckett legt falsche Fährten, schafft Verwicklungen und neue Verdachtsmomente. Jonah kommt jedoch der Wahrheit Schritt für Schritt näher.

Seine tragische Vergangenheit bringt Tiefe in seinen Charakter und liefert eine andere Dimension. Er ist festgefahren, bestraft sich selbst für das Verschwinden seines Sohnes. Daneben ist er aber auch gutherzig, verständnisvoll und naiv. Gerade diese Naivität, die subjektive und verblendete Sicht der Figur beeinflusst auch den*die Leser*in. Wir sehen alles aus den Augen von Jonah und sind zunächst blind für die Wahrheit. Ich habe nicht viel grübeln und einfach nur lesen wollen, daher hat mich die Auflösung am Ende überrascht – ein Wollknäuel an Verstrickungen! Aber sind die Verstrickungen möglicherweise zu gewollt? Das wird sich hoffentlich in den Fortsetzungen zeigen.

Gebremst beim Lesen hat mich Jonahs Knieverletzung. Die Dynamik des Thrillers leidet darunter. Und dass er quasi im gesamten Buch auf Krücken läuft, humpelnd einen Mehrfachmörder zu stellen versucht, wiederholt zusammengeschlagen wird, erscheint mir sehr außergewöhnlich. Vielleicht kann man das als einen Ausdruck seiner inneren Gebrochenheit bzw. als Selbstbestrafung betrachten?

»Die Verlorenen« ist kein abgeschlossener Roman. Viele Figuren sind noch nicht auserzählt und warten nur darauf, mehr Gestalt anzunehmen. Das Ende lässt auch mehr Fragen offen, als beantwortet werden. Und die große Frage, was ist tatsächlich damals mit Theo passiert, ist auch noch nicht geklärt. Besteht noch ein Funke Hoffnung? Ich hoffe, dass im nächsten Teil die Figuren mehr Farbe bekommen und wir uns der Antwort nähern. Es bleibt auf jeden Fall spannend.

 

Fazit: starker spannender Auftakt. Ein typischer Beckett!

 

 

– Das Buch war ein Geburtstagsgeschenk. Erworben in der Buchhandlung Gossens Bücher in Düsseldorf-Oberkassel. –

 

Simon Beckett

»Die Verlorenen«

2021, ISBN: 978-3-8052-0052-3

Wunderlich

[1] Interview mit Simon Beckett über David Hunter, erschienen am 6.5.2011 in Augsburger Allgemeine.

[2] Definition Antiheld in DWDS.

[3] Interview mit Simon Beckett über seine beiden Antihelden, erschienen am 8.7.2021 in der Zeit.