„Schlechte Entscheidungen bringen gute Geschichten.“ Dieser Spruch lässt vor allem Olive, Horoskope-Journalistin in London, nicht mehr los. Denn sie befindet sich gerade in einem Meer schlechter Entscheidungen und wird vom Pech verfolgt, doch etwas Gute kann sie nicht erkennen – noch nicht. Ein weiteres Unglück in Hamburg wirft Fragen zur verschwiegenen Vergangenheit ihrer 98-jährigen Oma Poppy auf, was Olive für eine Story nutzen möchte, mit der sie nicht nur in ihrem Job, sondern vielleicht auch in ihrem Leben neu durchstarten kann. Die Reise nach Deutschland und Dänemark verändert nicht nur ihre Sichtweise auf Oma Poppy, sondern setzt auch neue Gefühlswelten frei und schärft den Blick auf ihr eigene Einsamkeit und Heimatlosigkeit.
„Seit einer halben Ewigkeit trug sie Gepäck mit sich herum, das sie nicht zu öffnen oder anzusehen wagte, aber ablegen ließ es sich auch nicht. Eine Weile hatte sie geschafft, es zu vergessen oder auszublenden, sie hatte trainiert und war stark genug gewesen, sein Gewicht auf ihren Schultern nicht zu spüren. Aber […] jetzt war sie kaum kräftig genug, die Last der Erinnerung weiter zu ignorieren. Sie musste sich mit der Vergangenheit befassen, ob sie wollte oder nicht.“ Claire
Claire, 36, Staranwältin in Manhattan, deren beste Ratgeber Struktur und Kontrolle sind, wird von einem Anruf und einer Täuschung aus der Bahn geworfen: Ihr heimlicher Partner Will hat ihr Vertrauen missbraucht und ihre Zwillingsschwester Iris ist auf See verunglückt. Claire ist nun die letzte Überlebende ihrer Familie, eine Übriggebliebene, und vielleicht fühlt sie sich gerade deswegen verpflichtet, ihren verdrängten Erinnerungen und der schwelenden Scham aus ihrer Jugend, die sie von ihrer Schwester die letzten 10 Jahre fernhielt, nachzuspüren und ihre Schwester neu kennenzulernen. Die Puzzleteile ihrer Erinnerungen führen sie an die Westküste auf eine verlassene Insel, wo sie lernt, dass Einsamkeit zwei Seiten hat, und den Mut findet, Vergangenes ans Licht zu holen.
Mit dem fortschreitenden Verblassen ihrer Oma ahnt Olive, dass sie nur noch diese letzte Chance hat, sich ihrem Erbe und Poppys düsterer Vergangenheit zu stellen. Sie fühlt sich eigentlich nicht bereit, den Rat ihrer Oma, „Wenn sich die Welt in Dunkelheit hüllt, bleibt dir nur der Blick nach innen“, zu folgen, und findet nur schwer einen Weg aus ihren Selbstzweifeln, ihrer Einsamkeit und Heimatlosigkeit. Dank der Unterstützung des lebensklugen Fotografen Tom traut sie sich, den Spuren ihrer Oma trotz Nazi-Vergangenheit weiter nachzugehen und Poppys Leben zu erzählen.
„Vermutlich hing Einsamkeit nicht davon ab, wie viele Menschen man um sich versammelte, sondern eher davon, ob man Menschen in seinem Leben hatte, mit denen man über alles reden konnte. Auch über die dunklen Kapitel, vor allem über die dunklen Kapitel.“ Olive
Auf zwei Zeitsträngen, im Jahr 2000 und 2022, kommen wir Poppys Geheimnis, ihr verschwiegenes Leben vor der Zeit als Mutter und Großmutter immer näher. Puzzleteil für Puzzleteil lässt uns Louise Pelt direkte und indirekte Verbindungen, unerwartete Wendungen und neue Entdeckungen zu einem Gesamtbild verknüpfen. Spannend bis zur letzten Seite verstrickt sie Schicksale, die sich zeitlich und räumlich weit voneinander entfernt anfühlen, aber am Ende sinnvoll ineinander übergehen. Jede Figur trägt eine eigene Geschichte mit sich und bringt diese auf empfindsame Art ein. Teilweise hätte ich mir aufgrund der Fülle an Personen und Lebensentwürfen weniger Schicksale gewünscht. Durch die vorangestellten Gedichte aus Poppys jungen Jahren werden ihr Kummer und ihre Ängste nachvollziehbarer.
Besonders gefallen hat mir die Einbettung des Hauptthemas Einsamkeit. Pelt zeigt an ihren Figuren, dass Einsamkeit viele Gesichter hat und nicht durchweg schlecht sein muss, sondern aus ihr auch Positives erwachsen und Stärke hervorgehen kann.
Fazit
Mit Olive und Claire auf Spurensuche durch die Zeit und in ihr zerwühltes Inneres hat mir noch besser gefallen als Louise Pelts ersten Roman über die „Halbwertszeit von Glück“. Gefühl- und schwungvoll erzählt sie von dem Nach-Hause-Kommen und den damit verbundenen Lasten der Vergangenheit, die, wenn sie verborgen bleiben, nicht nur die jeweiligen Menschen, sondern auch nachkommende Generationen beeinflussen und prägen.
„Für manche Geschichten braucht es nicht Zeit, sondern Mut.“
Vielen Dank an Bastei Lübbe für das Leseexemplar.
Louise Pelt „Die Anatomie der Einsamkeit“. Roman
Lübbe, 2025, 448 Seiten
ISBN: 978-3-7577-0103-1