Katie Kitamura „Intimitäten“

Katie Kitamura „Intimitäten“

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Ein so passender Titel! Katie Kitamura beschreibt in „Intimitäten“ so eindrücklich, gefühlvoll und psychologisch vertieft von zwischenmenschlichen Beziehungen, von Nähe und Distanz, von Wahrheit und Geheimnis, von Sicherheit und Unsicherheit, von Geborgenheit und Fremde. All diese Aspekte vereinen sich in der namen- und gesichtslosen Protagonistin des kleinen Bandes. Wir tauchen ein und kommen der Hauptfigur und ihren Aufgaben als Dolmetscherin am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag sehr nahe. Sie gibt uns tiefe Einblicke in das Handwerk des Dolmetschens, ist nicht nur Vermittlerin des Gesagten, sondern baut auch eine intime Beziehung zwischen Sprecher (sie nimmt dessen Ich-Position ein), vor allem aber zwischen Dolmetscher und Empfänger auf, da sie für ihn spricht.

Worum geht es?

Die elektrisierende Geschichte einer Frau, die gefangen ist zwischen vielen Wahrheiten. – „Katie Kitamura ist eine absolut glänzende Schriftstellerin.“ New York Times Book Review

Was braucht ein Ort, um zu einem Zuhause zu werden? Die heimatlose Erzählerin verlässt New York, um am Internationalen Gerichtshof als Dolmetscherin zu arbeiten. Als sie Adriaan kennenlernt, scheint Den Haag zur Antwort ihrer Sehnsüchte zu werden. Doch dann verschwindet er zu seiner Noch-Ehefrau und hinterlässt nichts als Fragen. Fragen, die sich zu einem existenziellen Abgrund auftun, als sie für einen angeklagten westafrikanischen Kriegsverbrecher dolmetschen muss und zweifelt: Was ist kalkulierte Lüge, was Wahrheit? Glauben nur noch die Naiven an Gerechtigkeit? Wer kann über wen richten? Katie Kitamuras subtiler Roman ist ein anregendes intellektuelles Vergnügen mit hypnotischer Sogwirkung. (Verlagstext)

Wie fand ich es?

Kitamura balanciert zwischen dem Großereignis am Internationalen Gerichtshof, dem Strafprozess eines Staatsmannes, dem u. a. Genozid vorgeworfen wird, und der titelgebenden Nähe und Verbundenheit im Kleinen. Sie zeichnet den Kontrast zwischen Sensationellem und den Feinheiten, den Details vor allem der Sprache. Die Protagonistin bringt uns ihr Verständnis von Sprache näher, die Mängel und Vorteile einer Übersetzung sowie das Zwischensprachliche. Beim Dolmetschen überträgt sie nicht nur die Worte, sondern auch die Intention, Tonalität und Darstellungsweise und hat somit Einfluss auf die Aussagekraft beispielsweise von Zeugen. Ein leichtes Zögern in einem „Ja“ kann bereits Zweifel hervorrufen. Intimität sehen wir aber auch wachsen in der unmittelbaren, persönlichen Übersetzung, im Einflüstern des Übertragenen ins Ohr des Empfängers. Spannend!

Neben den sprachlichen Tiefen beeindruckt ihre Beobachtungsgabe von Gestik, Mimik, Körpersprache und Gruppendynamik, durch die sie ein ums andere Mal intime Situationen interpretiert. Sie deckt die Wahrheit auf, liest in den Macht- und Dominanzgebaren, erkennt Schauspiel und Täuschung sowie Verheimlichtes und Geheimnisse.

„Kees [Strafverteidiger] umarmte den Mann [Angeklagter] begeistert, als wären sie alte Freunde. […] führte Kees ihn zu seinem Platz, eine Hand weiterhin auf seiner Schulter. Ich sah, dass er demonstrativ Körperkontakt mit dem Ex-Präsidenten hielt, und dachte mir, dass diese Geste, über Kees‘ Geltungsdrang hinaus, wohlkalkuliert war und zeigen sollte, dass der Angeklagte ein Mann wie jeder andere war, ein Mann, der in einer zivilisierten Gesellschaft leben konnte, der Freunde und Familie hatte und vor dem man nicht beschützt werden musste. […] es ging um die Geste, das Schauspiel, durch seine kleine Darbietung normalisierte Kees den Angeklagten gleichsam vor den Augen des Gerichtshofs und den Kameras, vor den Augen der Welt.“

Gerade der Prozess um den Ex-Präsidenten, der für Völkermord verantwortlich sein soll, ist wahnsinnig spannend. Dabei verfolgen wir jedoch nicht den Prozess an sich, die Argumente von Verteidigung und Anklage, sondern erleben ihn durch die Beobachtungen und Erlebnisse der Erzählerin. Wir begleiten sie zu den Gerichtsverhandlungen, die sie dolmetscht, sowie zu Besprechungen der Verteidiger mit dem Angeklagten. Das Übertragen der Worte der Verteidiger und das In-Worte-Fassen der Gräueltaten des Angeklagten bringen die Protagonistin und ihre Objektivität ins Schwanken. Ohne darauf Einfluss zu haben, entwickeln sich durch diese intime Situation des Sprechens für ihn und der Nähe zu ihm Intimität und Verständnis. Die steigende Verbundenheit mit dem Ex-Präsidenten und ihre wachsende Abgestumpftheit gegenüber seiner Gewalt führen am Ende zu einer gewissen Gleichgültigkeit. Dies beschämt die Protagonistin, weckt sie auf und lässt ihr Leben überdenken.

„Aber ich war der Ansicht, dass Gleichmut weder tragbar noch erstrebenswert war. Er stumpfte einen ab. Ich war noch nie einem so gleichmütigen Menschen begegnet wie dem Ex-Präsidenten. Wobei sie das alle waren – Ankläger und Verteidiger, das Richterkollegium und sogar die Dolmetscher. Sie konnten hier arbeiten. Sie hatten das richtige Naturell für diese Tätigkeit. Aber welchen Preis bezahlten sie innerlich dafür?“

Eine weitere Besonderheit ist das Fehlen von Dialogen, der direkten Rede. Das ist – wenn man genau darüber nachdenkt – gerade in einem Buch, in dem es vor allem um das gesprochene Wort geht, um Sprache und Pointierung, sehr ungewöhnlich. Trotzdem bin ich direkt in den Lesefluss gekommen, denn dieses Fehlen gerade im Schriftbild führte bei mir zu Nähe, Intimität und Verbundenheit mit den Figuren. Ein weiterer interessanter Aspekt ist die konturlose Hauptfigur, über die wir sehr wenig erfahren und trotzdem eng mit ihr verbunden sind. Diese Aussparung steht im Kontrast zu den vielen detaillierten Beschreibungen im Roman.

Kitamuras gezielte Beobachtungen nicht nur der Sprache, sondern beispielsweise auch von Kunst und Situationen sind faszinierend. Wie die Protagonistin ein Bild interpretiert, der Intention der Künstlerin näher rückt, fand ich klasse. Aber auch die zwischenmenschlichen Beziehungen im Privaten werden beobachtet, sie liest zwischen den Zeilen. Gestik und Mimik sowie Aussprache und Inhalt formen sich ihr zu einem Gesamtbild. So erkennt sie in dem Buchhändler Anton Unaufrichtigkeit seiner Schwester gegenüber und seinen Drang, ein Geheimnis zu bewahren. Dies offenbart sich ihr bei einem Mittagessen, wo sie ihn mit einer anderen Frau trifft.

Ein weiteres Thema ist Heimat und Zuflucht gegenüber dem Wurzellosen und Fremden. Die Protagonistin findet nach dem Verlust ihres Vaters nirgends ein Zuhause, auch in dem Jahr in Den Haag fühlt sie sich wie eine Durchreisende, wie ein Gast. Erst in der Beziehung mit Adriaan und in seiner Wohnung kommt ein Gefühl von Heimat auf, das sich jedoch durch die Reise zu seiner Noch-Ehefrau und sein währendes Schweigen und seine Abwesenheit wieder aufzulösen beginnt.

„Ich dachte: Ich will nach Hause. Ich will irgendwo sein, wo ich mich zu Hause fühle. Wo das allerdings war, wusste ich nicht.“

Fazit

„Intimitäten“ ist kein stringent fortlaufender Roman, in dem es um die großen Themen geht. Von Bedeutung sind die Feinheiten, Nuancen und kleinen, intimen Details, die die Erzählerin aufdeckt und klug und einfühlsam verwebt.

Vielen Dank an den Hanser Verlag und an vorablesen.de für das Leseexemplar.

Katie Kitamura

Intimitäten. Roman

Aus dem Englischen von Kathrin Razum

Hanser Verlag, 2022, 224 Seiten

Fester Einband

ISBN 978-3-446-27404-4