Markus Gasser „Lil“

Markus Gasser „Lil“

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Was passiert, wenn Frauen die ihnen von der Gesellschaft vorgeschriebenen Wege verlassen? Wenn sie ihren Neigungen, Fähigkeiten und Talenten folgen und sich von den beschränkten Rollenmustern frei machen? – Sie werden zur Gefahr, zur Gefahr für diejenigen, die an den etablierten Geschlechterrollen festhalten und von ihnen profitieren. Die Protagonistin Lil Cutting in Markus Gassers Roman „Lil“ ist eine solche Frau des 19. Jahrhunderts, die unnachgiebig ihren Weg geht. Mit nur 18 Jahren übernimmt sie die Firmenleitung von ihrem Vater und führt das Eisenbahnunternehmen zu großem Erfolg, investiert ihr Vermögen an der Börse und in Unternehmen, arbeitet hart, steigt zum Finanzgenie auf und wird so zum Gesprächsthema bei den Erlauchten oberen Vierhundert der New Yorker Gesellschaft. Diese sieht die bestehende soziale Ordnung in Gefahr sowie den daraus erwachsenden eigenen Vorteil. Und was kann man dagegen tun? Menschen, die diesen Pfad verlassen und von den Stereotypen abweichen, eine geistige Störung andichten und sie in eine Anstalt wegsperren. Lils Sohn Robert und sein Psychiaterfreund Fairwell tun alles, um Lil, die bereits das Image eines genialen Miststücks hat und den Beinamen Lil the Kill trägt, zu entmündigen und sie wie hier alle aufstrebenden Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund, Arbeitende oder Arbeitslose zu unterdrücken.

„‚Die naturgegebenen und damit moralischen Gegensätze zwischen Männern und Frauen […] sind in ihrem [Lils] Gehirn pathologisch aus den Fugen geraten. Eine Frau will sie, gegen ihre Natur, nicht sein. Ein Mann ist sie von Natur aus sicherlich nicht […] und etwas Drittes existiert nicht, also wird ihr als einziger Ausweg immer nur die Manngleichheit bleiben, die jedoch kein Ausweg, sondern nur als schwere Störung anzurechnen ist. Der Kampf mancher Frauen in unserer Gesellschaft gegen die angeblichen Privilegien der Männer hat sich bei ihr ins Unsinnige und Wertlose verzerrt.‘“ Fairwell

Die Geschichte rund um Lil wird aus der heutigen Perspektive von ihrer Ururururenkelin Sarah erzählt, ausgelöst durch den Fund eines verschollenen Briefs von Lil an Colby, ihrer Anwältin, worin sie von ihrer Gefangenschaft im Sanatorium berichtet und um Hilfe bittet. Denn nach dem Tod ihres Mannes Chev versucht ihr Sohn Robert zusammen mit dem Psychologen Fairwell ihr Geisteskrankheiten auf den Leib zu schneidern, damit er an sein Erbe kommt und seine Bank retten kann, die er durch Fehlinvestitionen zugrunde gerichtet hat. Lils wirtschaftliches Geschick und ihr freies Denken hat er nicht geerbt, vielmehr möchte er mit dem Strom schwimmen, von der oberen Gesellschaft anerkannt sein. Ein Grund, warum er seine Mutter und alle Frauen verachtet, die sich ihm nicht unterordnen.

„‚[…] und Lillian Cutting macht alle unglücklich, indem sie sich über ihre Natur hinwegsetzt und über die Rolle, die ihr die Gesellschaft zugewiesen hat. Darum stellt Mrs Lillian Cutting für ihre Umgebung und für sich selber eine Gefahr dar.“ Fairwell

Mitgefiebert habe ich bei der Schilderung des Prozesses, den Robert gegen seine Mutter führt. Denn dort werden die frauenverachtenden Ansichten gebündelt, Lils Errungenschaften, ihre weitsichtigen Investitionen, ihr soziales Engagement sowie ihre Offenheit allen Menschen (auch den Armen und Migranten) gegenüber werden als psychische Krankheit dargestellt. Aber Lil ist nicht alleine und zieht noch ein Ass aus dem Ärmel. Und wie sie den Weg aus dieser bitteren Erfahrung geht, macht einfach Spaß zu lesen.

„Sie erklären das, was die meisten Menschen tun, für gesund und naturgegeben. Und wenn jemand diesen Regeln nicht folgt, machen Sie aus ihm einen unnatürlichen Fall, der von Ihnen geheilt werden muss, wie es Mrs Lillian Cutting hier widerfahren ist. Eigensinn aber, Doktor Fairwell, Eigensinn ist keine Krankheit. Eigensinn fordert Charakter und jene Unbeugsamkeit, wie sie die Verfasser unserer Unabhängigkeitserklärung bewiesen haben.“

Die Rahmenhandlung bleibt zunächst einmal vage, gerne hätte ich noch mehr über Sarah erfahren und ihren heutigen Bezug zur Familiengeschichte. Deutlich wird nur, dass sie dem Vorbild ihrer Ahnin folgt und sich nicht um gesellschaftliche Konventionen schert. Ein Gespräch mit ihrem Hund Miss Brontë ist genauso selbstverständlich wie ein mitternächtlicher Spaziergang durch den Central Park. Am Anfang habe ich einige Seiten gebraucht, um ins Buch zu kommen. Der Sprachstil ist eher eigensinnig, die vielen Einschübe bremsten mich beim Lesen, doch sobald man drin ist, erwacht das Bild einer hochmütigen Gesellschaft zum Leben. Gasser schreibt sehr spitz, hebt mit der Sprache auch den Snobismus der Erlauchten Vierhundert von Manhattan hervor.

Fazit

Markus Gassers „Lil“ ist eine spannende Geschichte um eine Frau, die sich gegen gesellschaftliche Konventionen stellt und ins Innere der Menschen blickt statt auf den äußeren Schein zu vertrauen. Ein Buch, das die Vielfalt der menschlichen Welt aufzeigt und den Fairwells dieser Welt die Stirn bietet. Wunderbar!

Vielen Dank an den C.H. Beck Verlag für das Leseexemplar.

Markus Gasser „Lil“. Roman

C.H. Beck Verlag, 2024, 238 Seiten

ISBN 978-3-406-81375-7