Jane Campbell „Kleine Kratzer“

Jane Campbell „Kleine Kratzer“

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Man meint ja, im Alter würde man milder oder sanfter werden, aber Jane Campbell zeigt uns das genaue Gegenteil. Sie holt den Vorschlaghammer raus und haut uns die Klischees und Vorurteile über Menschen jenseits der 60 um die Ohren. Zeigt uns, dass die jüngeren Generationen die Bedürfnisse und Wünsche älterer Menschen nicht wahrnehmen, missverstehen oder gar ignorieren meist für ihr eigenes Wohl. „Kleine Kratzer“ stellt sich als ein beeindruckendes, erschreckendes sowie trauriges Bändchen heraus.

In 13 Short Storys bekommen die Personen eine Stimme, die häufig in der Literatur nur Randfiguren darstellen: Senior*innen. Wie lernen von der Liebe, vom Lustempfinden und der Freude im Alter, aber auch von den Fesseln und anerzogenen Rollenvorstellungen vor allem in der Ehe, von Bevormundung, vom Verlust der Freiheit und von der Enteignung von Körper und Geist. Jane Campbell führt uns mit ihren Erzählerinnen vor Augen, dass wir Jüngeren fälschlicherweise glauben, unseren (Groß-)Eltern Gutes zu tun, ohne aber ihre eigentlichen Bedürfnisse abzufragen oder ihre Stimmen zu hören. Wir bevormunden und urteilen über sie. Campbell fehlen Verständnis und Offenheit den älteren Menschen gegenüber. Und dies zeigt sie in einigen Kurzgeschichten mal sehr radikal, mal sehr erschütternd, mal sehr sanft, dann mal wieder sehr aufreibend. Eine reichhaltige Sammlung von gefühlsstarken Schicksalen, deren Geschichten am besten portionsweise gelesen werden sollten, da jede einzelne sprachlich wie inhaltlich gewaltig ist und nachhallt.

Besonders gefallen hat mir „Susan und Miffy“. Darin erleben wir den Moment, wie sich Susan, eine Pflegeheimbewohnerin, in ihre Pflegerin Miffy verliebt. Wie sie zunächst nur beim Anblick ihrer Hände, dann ihres jungen Körpers Lust empfindet, wie ihre Fantasie neue, ungeahnte Wege geht und wie ihr Empfinden im Kontrast zu ihrer damenhaften Erziehung steht. Campbell beschreibt sehr intim den Beginn von etwas Neuem für Susan, für Miffy, aber auch für uns Leser*innen. Denn es ist sozusagen Susans zweiter Frühling, sie wird lebendiger, kommt wie ein Teenager bei der ersten großen Liebe ins Schwärmen – ihr Feuer ist entfacht.

„Es war, als stünde sie neben einer Art Leuchtfeuer, von dem ein kleiner Funke emporschoss, durch die Luft fiel, in ihrem Herzen zu hellem Licht wurde und mit seiner Hitze ihr Mitgefühl entfachte.“ Miffy

Campbell veranschaulicht somit auch, dass Susans Gefühle nicht einseitig sind, denn von Miffy erfahren wir, dass auch sie sich Susan sehr nahe fühlt und schließlich ihren Verlust sehr intensiv erlebt. Ja, Campbells Storys haben häufig ein sehr abruptes, hartes Ende. Was hier aber besonders wehtut, ist die Reaktion von Miffys Partner, der für ihre Trauer kein Verständnis aufbringt, denn war es nicht ein erwartbarer Tod einer alten, verschrumpelten, übel riechenden Greisin? Gefühle für eine solche Person zu empfinden, lösen bei ihm nur Ekel aus. Scham für die eigenen Gedanken, Scham für die allgemeinen Ansichten jüngerer Menschen über die ältere Generation kommen auf. So hält Campbell uns den Spiegel vor, konfrontiert uns Jüngeren mit unseren tatsächlich abwegigen Gedanken, die eigentlich nur uns selbst dienen.

„Das Altern […], aber in Wirklichkeit ist es ein Prozess der Enteignung. Freiheit, Respekt, Lust, all das, was man früher so selbstverständlich besessen und genossen hat, wird einem nach und nach genommen. […] Und auch das ist eine Enteignung: dass man niemanden mehr glücklich macht. […] Es ist ein furchtbarer Verlust.“

Fazit

Super starke Short Storys, die Mut machen, appellieren, das Alter nicht so einseitig zu sehen, die Augen zu öffnen. Campbell beweist uns, dass Liebe, Lust, Freude keine Grenzen kennen und auch dass Alter mehr bereithält, als wir uns jetzt vorstellen können. Und noch so viel mehr… Das Buch müsst ihr einfach lesen!

Vielen Dank an den Kjona Verlag und Kirchner Kommunikation für das Leseexemplar.

Jane Campbell „Kleine Kratzer“. Storys

Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell

Kjona Verlag, 2023, 192 Seiten

ISBN 978-3-910372-17-7