Anika Landsteiner „Nachts erzähle ich dir alles“

Anika Landsteiner „Nachts erzähle ich dir alles“

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Die Unvorhersehbarkeit eines ganzen Sommers – unvorhersehbar war für mich auch dieser gefühlvolle Roman. Denn so, wie er begonnen hatte, habe ich nicht gedacht, dass da noch so viel mehr drin steckt. Es ist mehr als nur eine schöne Geschichte, sie hat Tiefe und wird mit jeder Seite besser und eindringlicher. Es handelt über Freundschaft und Liebe, Trauer und Verlust, Liebeskummer und Loslassen, Ehrlichkeit und Selbstschutz, Mutterschaft und Abtreibung, Selbstbestimmung und Selbstwahrnehmung. Anika Landsteiner hat in „Nachts erzähle ich dir alles“ ein breites Themenspektrum mit so einer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit verwoben, dass ich bei der Lektüre nur staunen kann, wie alles perfekt zusammenspielt mit Gefühl, Humor und feministischen Einblicken.

„Es ist nie einfach, wenn’s richtig war. […] Das ist es doch. Der Schmerz bestätigt dir, wie wertvoll die Zeit war. Aber dass sie vorbei ist, das macht dich fertig.“

Worum geht es?

Léa flieht vor ihrem Leben. Sie tauscht den deutschen Sommer gegen den südfranzösischen und fährt auf das alte Familienanwesen an der Côte d’Azur. Doch ihr Plan, dort zur Ruhe zu kommen, geht nicht auf: Am Abend ihrer Ankunft unterhält sie sich mit einer jungen Frau, die noch in derselben Nacht ums Leben kommt – und Léa ist die letzte, die sie gesehen hat. Plötzlich steht Émile, der Bruder der jungen Frau, vor Léas Tür. Ihn quälen viele Fragen, weil er erfahren hat, dass seine Schwester schwanger war. Nacht für Nacht erzählen sie sich von ihren längst nicht mehr heilen Familien, sie streiten mit Haut und Haar über Schuld, Angst und Schweigen. Während Léa versucht, zurück ins Leben zu finden, setzt Émile alles daran, zu ergründen, was zum Tod seiner Schwester geführt hat. Wie kann man Abschied von der Vergangenheit nehmen, ohne zu vergessen? (Verlagstext)

Wie fand ich es?

Die Protagonistin Léa, die in einem Zuhause voll weiblicher Wärme und Stärke aufwuchs, ist beruflich wie privat ausgebrannt, ihre Mutter überredet sie daher, in ihrem Ferienhaus in einem kleinen Dorf an der Côte d’Azur ihren Sommer zu verbringen, auszuspannen und Kraft zu tanken. Dort angekommen erwarten sie nicht nur die Erinnerungen vergangener Sommer und Gedanken an ihre verlorene Liebe, sondern sie begegnet in ihrer ersten Nacht auch dem Teenager Alice, die sich nach Einsamkeit und gleichzeitig nach Nähe sehnt. Mit ihr nimmt ein ganz eigener Sommer seinen Anfang.

Bei den ersten Abschnitten könnte man noch an eine leichte Sommerlektüre denken mit möglichen heißen Flirts, langen Partynächten und Relaxen am Pool, doch mit jeder weiteren Seite steigert sich die Intensität und Gefühlsstärke, die Figuren öffnen sich – und die Geschichte wird vielschichtiger und vernetzt Liebe und Trauer zu einem großen Bild. Es wird persönlich, philosophisch, politisch und doch bleibt ein enger Bezug zu den Figuren. Es zeichnet sich ab: Dieser Sommer ist nicht nur für die Protagonisten, sondern auch für die Lesenden unvorhergesehen und unerwartet. Verstärkt hat dieses Gefühl auch die Verbindung der Erzählung aus der Perspektive von Léa mit den Briefausschnitten von Claire, der früheren besten Freundin von Léas Mutter, die in dem Küstenort lebt. Sie schlägt die Brücke zwischen dem Jetzt und dem Gestern, gibt Einblicke in ihre Kindheit und der Freundschaft der beiden jungen Frauen und ihrem Weg zu ihrer heutigen Identität und Stärke.

„Die Dynamik zwischen Freundinnen ist nicht zu unterschätzen. Sie kann einen beflügeln und weit tragen. […] Es war schließlich Ihre Mutter, deren Leichtigkeit und Witz, deren Selbstbewusstsein mich inspirierten, selbst etwas zu wagen. Sie imponierte mir ein bisschen, aber nicht so, dass ich mich eingeschüchtert zurückzog, sondern mich eher langsam davon habe anstecken lassen. Ein feiner Grat zu wandeln. Sie selbst dabei erkennen dürfen. Was für ein Geschenk.“ Claire

Emiles Neugier, der Bruder von Alice, gibt dem Roman eine erneute Wendung, ihm hilft Léa bei der Suche nach Alices Wahrheit. Dabei lernt sie und wir viel über ihre eigene Wahrheit, ihre Gefühle und Wünsche, über die ihrer Mutter und Claires. Es ist ein Roman der Frauen, über weibliche Stärke und das Recht zur Selbstbestimmung, ohne jedoch die männliche Perspektive eindimensional wirken zu lassen.

„Und alles, was sie denken konnte, war: Ich mag mich in deiner Gesellschaft. Und ich mag, wie ich dich begehre, ich schäme mich keinen Moment dafür, wie sehr mein Körper und mein Verstand dich wollen.“

Fazit

Mit einer zarten Sprache, die so wunderbar in die französische sonnige Landschaft passt und leicht, mühelos wirkt, verführt uns Anika Landsteiner in einen Sommer, der ganz anders wird als erwartet, geprägt von Verlust und Selbstfindung. Sie gibt ihren Figuren Raum zu leben, zu denken, zu lieben und geliebt zu werden. Stimmungsvoll. Emotional. Einfach wundervoll.

„Bleiben Sie im Hier und Jetzt. Die Jahre rasen. Die Verluste häufen sich. Sie können nichts dagegen tun. Sie können nur das erleben, was gerade ist. Verlieben Sie sich. Mit allen Sinnen.“

Vielen Dank an die S. Fischer Verlage für das Leseexemplar.

Anika Landsteiner „Nachts erzähle ich dir alles“. Roman

Fischer Krüger, 2023, 368 Seiten

ISBN: 978-3-8105-3087-5