Grenzüberschreitung, Vertrauensbruch, Selbstbetrug

Grenzüberschreitung, Vertrauensbruch, Selbstbetrug

with Keine Kommentare

Grenzüberschreitung, Vertrauensbruch, Selbstbetrug. Der Roman „Wie ähnlich ist uns der Zackenbarsch, dieses äußerst hässliche Tier“ von Anita Augustin beschreibt so viele negative, hässliche Seiten der Menschen, dass es extrem verwunderlich ist, dass mir trotzdem alle Figuren so sympathisch erscheinen. Sie sind herzlich, liebevoll und haben Humor. – Aber sie belügen sich und andere auch, hintergehen einander und fahren wie der Zackenbarsch ihre Stacheln aus.

„Wenn man Karl fragen würde, wie sie in diesen dreizehn Jahren vorgegangen ist, um ihre Tochter wiederzufinden, dann würde sie sagen: Ich habe gespielt. Ein bisschen Poker, ein bisschen Theater, aber vor allem Lotto.“

Worum geht es?

Zackenbarsche sind auch nur Menschen

Cornelia Karl führt ein zufriedenes Durchschnittsleben als berufstätige Frau und alleinerziehende Mutter. Dieses Leben endet jäh, als ihre zwölfjährige Tochter Elli spurlos verschwindet. Die polizeiliche Fahndung bleibt ergebnislos, der Fall landet bei den Akten. Ihre Trauer um Elli verwandelt sich in ein explosives Gemisch aus Wut, Trotz, Sarkasmus und Skrupellosigkeit. Sie beschließt, ihre Tochter im Alleingang zu finden, koste es, was es wolle. Die erste heiße Spur führt zu einem Sexualtherapeuten, der pädophile Männer behandelt. Cornelia Karl beginnt eine Affäre mit ihm, und die Suche wird zu einem aberwitzigen Spiel rund um Liebe, Lüge und die Macht der Hoffnung.

Ein Shakespear’sches Drama mit feministisch-sarkastischem Grundton über ein abseitiges Thema – niemand kann das besser als Anita Augustin. (Verlagstext)

Wie fand ich es?

Plötzlich und für mich schockierend, gar nichts ahnend werden wir mit dem schlimmsten Grauen konfrontiert, das Eltern widerfahren kann: Cornelias Tochter, die 11-jährige Elli, verschwindet spurlos. Einige Tage danach rekapituliert Cornelia für uns, was seitdem passiert ist: Die Gespräche mit der Polizei, deren Vorwürfe an sie als alleinerziehende, berufstätige und damit häufig abwesende Mutter, Kritik ihrer Erziehungsmethoden nach Unabhängigkeit und Selbstermächtigung, die Ohnmacht der Polizei. Aber Cornelia zeigt sich weder in Tränen und Verzweiflung aufgelöst noch hysterisch noch apathisch. Sie ist wütend, wird selbst aktiv und folgt eigenen Spuren, die sie nach einiger Zeit zu dem Psychotherapeuten Leopold Frank führen. Er therapiert Männer mit pädophiler Sexualpräferenz, die Gentlemen wie er sie nennt. Unter ihnen ist auch Viktor.

Der Zackenbarsch, „[…] der ist ein Jäger. Ein Lauerjäger. Wartet im Hinterhalt ab, bis etwas Schmackhaftes vorbeischwimmt, dann reißt er blitzartig sein Maul auf, und der dadurch entstehende Sog zieht ihm das Opfer ins Maul, wo es mit den Zähnen zerhackt wird. Großartiges Vieh! Sein Lieblingsessen ist die Brut anderer Fische, also die Kids der Fische, sozusagen.“

Abwechselnd schlüpfen wir in die Perspektive der Figuren. Gerade bei Viktor, der Tagebuch führt, nehmen wir die Ich-Perspektive ein, sind ihm so nah wie keinem anderen. So spüren, empfinden und sehen wir das, was er erlebt bzw. wahrnimmt. Verstörend ist, dass gerade das zum größten Teil nicht verstörend ist. Denn er ist sympathisch, humorvoll, hat einen klugen Blick aufs Leben. Seine pädophile Störung und Therapie betrachtet er abgetrennt von seinem restlichen Leben. Er folgt humanistischen Werten, ist belesen, sehnt sich nach Partnerschaft und wirkt wie ein ganz normaler Mensch.

„Hässlich ist Ansichtssache, schön ist Ansichtssache, Fisch bleibt Fisch, das ist wie bei uns Menschen, die einen sind so, die andern so, aber Mensch bleibt Mensch […].“

Für Frank sind die Gentlemen ein spannendes Forschungsfeld. Er therapiert sie, schafft ihnen ein Netz, um mit ihrer Krankheit, mit ihren Sehnsüchten umzugehen und sie umzuleiten. Heilung sieht auch er für sie nicht. Abwechslung in sein sprödes Eheleben bringt Cornelia, mit der er eine von seiner Frau abgesegnete Affäre beginnt. Bei den wöchentlichen Treffen berichtet er ihr von seinen Lieblingspatienten, ihren Fortschritten und Problemen. Unwissentlich hilft er Cornelia, Elli näher zu kommen. Ungläubig frage ich mich, fällt ihm nicht auf, dass Cornelia ein Ziel verfolgt – skrupellos? –, dass er ihr vertrauliche Informationen weitergibt und seine Schweigepflicht bricht? Ja und nein, er schwelgt auf Wolke 7, genießt die Zeit mit seiner nymphomanischen Halbgöttin in jeglicher Hinsicht – moralisch zweifelhaft?

Augustins nüchterner Schreibstil fokussiert die Figuren, ihre Charaktere, Schwächen und Stärken, ihren Charme und ihre Abscheu, und zeigt auf, dass Monster auch Menschen sind. Unglaublich, wie Humor und eine bizarre Leichtigkeit dabei helfen, dieses harte, heikle Thema zu bewältigen, ohne es zu verharmlosen. Denn man sollte nicht vergessen, es geht um Menschen mit pädophilen Neigungen, die zum Teil tätig geworden sind und Kinder missbraucht haben!

Es ist unglaublich spannend, wie sich die Ereignisse gleich einer Dramödie zuspitzen und schrittweise offenbaren, was sich angebahnt hat oder kommt es doch ganz anders? Geht Cornelias Plan, ihre Tochter zu finden, auf? Kann sie Viktor auf den Zahn fühlen? Bestehen Heilungschancen für die Gentlemen? Neugierig? Lest selbst.

„‚Und jetzt soll mir meine schlaue Tochter folgende Frage beantworten: Was macht man mit einem sehr großen, sehr schweren Stein, der Vergangenheit heißt und sich nicht wälzen, nicht bewegen lässt? Soll man dagegentreten? Soll man versuchen, ihn zu zerschlagen? Was macht man?

‚Man lässt ihn einfach liegen und geht davon.‘“

Fazit

Humor trifft auf Skrupellosigkeit, Liebreiz auf Unmoral. Verzweifelte Helden auf hoffnungslose Bösewichte. Mit ihren unkonventionellen Charakterzeichnungen – fernab von Gut und Böse, nur Mensch – bin ich ihr ins Netz gegangen.

Chapeau, Anita Augustin, für diese mutige, bizarre Geschichte!

Vielen Dank an buchcontact und den Leykam Verlag für das Leseexemplar.

Anita Augustin „Wie ähnlich ist uns der Zackenbarsch, dieses äußerst hässliche Tier“. Roman

Leykam Verlag, 2023, 320 Seiten

ISBN 978-3-7011-8269-5