Annabelle Hirsch „Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten“

Annabelle Hirsch „Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten“

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„Frauen und Objekte? Aber Frauen sind doch Objekte!“

Annabelle Hirsch räumt mit diesem Vorurteil auf. Sie hat sich gefragt, was Gegenstände über jemanden, speziell über Frauen, über ihr Leben, ihren Alltag, über das Dasein als Frau ihrer Zeit aussagen. Denn Frauen sind mehr, so viel mehr als nur das hübsche Beiwerk, mehr als „passive Opfer“. Frauen waren und sind da, sind denkende, handelnde, kämpfende, erzählende Wesen. Davon zeugen die von Hirsch vorgestellten 100 Objekte.

Worum geht es?

Es gibt unzählige Möglichkeiten, eine Geschichte der Frauen zu erzählen, diese hier tut es anhand von Objekten. Hundert Gegenstände des Alltags, der Mode, der Medizin, der Kunst, leise und laute Objekte, solche, die vom Freiheitsdrang und der Rebellion der Frauen zeugen, aber auch solche, die für die Mythen und Normen stehen, mit denen man sie schon immer kleinhalten wollte. Annabelle Hirsch schafft einen Kosmos der Frauen und ihrer Dinge. Wir begegnen einer antiken Amazonen-Puppe, einem Lilith-Amulett, der Nonnen-Krone von Hildegard von Bingen, venezianischen Stelzenschuhen, einem Bidet, einer Hungerstreik-Medaille, einem Teller von Vanessa Bell, dem Baumwollbeutel einer amerikanischen Sklavin, einer Brosche von Hannah Arendt, einem »100-Stundenkilometer-Mantel«, einer Tupperdose und vielem mehr. (Verlagstext)

Wie fand ich es?

Annabell Hirsch zäumt sozusagen das Pferd von hinten auf: Von Frauen, die zum Objekt gemacht wurden, zu Objekten, die von Frauen geprägt sind. Auf diese Weise spannt Hirsch einen Bogen durch die Geschichte der Frauen beginnend bei einem verheilten Oberschenkelknochen datiert auf 30.000 v. Chr. über einen gläsernen Dildo aus dem 16. Jahrhundert und Chanel No5 (1921) bis zum aktuellsten Objekt Pussy Hat (2017). Zu jedem Gegenstand erzählt sie eine Geschichte, denn Frauen haben nicht unwesentlich zur Geschichte beigetragen – manchmal nur im Kleinen und im Privaten. Aber dass das genauso wichtig ist oder vielleicht sogar noch wichtiger als die große Geschichtsschreibung (meistens männlich geprägt), zeigt bereits ihr erster Eintrag: der geheilte Oberschenkelknochen.

Dieses erste Objekte ist verbunden mit der Frage, die überraschend aktuell ist: Was bedeutet Zivilisation und ab wann sind wir zivilisiert? Die Anthropologin Margaret Mead nennt in ihrer Antwort entgegen den Erwartungen weder ein Werkzeug noch eine Waffe, sondern verweist auf einen verheilten Oberschenkelknochen datiert auf 30.000 v. Chr., der beweist, dass der verwundete Mensch von jemand anderem behandelt, ernährt, gepflegt und beschützt wurde. Dies steht im krassen Gegensatz zur Tierwelt, in der es heißt: Survival of the fittest. Dieses Umsorgen, für jemand anderen als sich selbst da zu sein, einen Verbund zu bilden, verzeichnet somit den Beginn unserer Zivilisation. Hirsch stellt zudem die These auf – und darin kann ich ihr nur zustimmen –, dass diese Pflege wahrscheinlich von einer Frau geleistet wurde. In der Vergangenheit haben Archäologen und Anthropologen (vor allem eben Männer!) den Mann als Jäger und Versorger angesehen. Viele Funde werden heutzutage allerdings neu gedeutet ohne die damalige Geschlechterbrille und offenbaren, dass Frauen für die Gemeinschaft eine ebenso große Rolle gespielt haben. Wer sieht hier nicht eine Parallele zu unserer heutigen Care-Arbeits-Situation?

Hirsch führt Objekte an, die bestimmte alteingesessene Sichtweise revidieren, die aufzeigen, dass auch Frauen Veränderungen bewirkt haben, dass sie viele Themen auch über ihren von Männern zugeschriebenen Kosmos des Hauses hinaus berührt und beeinflusst haben, aber auch dass Frauen eingeengt wurden und ihnen eine bestimmte Rolle zugewiesen wurde. Hirsch legt den Fokus der Dinge auf Bereiche, wie die unterdrückte und verteufelte weibliche Sexualität, ihren sündigen Körper, Liebe, Erwerbstätigkeit, Kunst und Kultur wie auch Politik. Sie verdeutlicht, dass Frauen unsere Geschichte entscheidend mitgeprägt haben.

Zum Beispiel die Remington Schreibmaschine (1874), durch die Frauen eigenständiger wurden und Geld verdienen konnten. Sie ermöglichte ihnen ein neues gesellschaftlich akzeptiertes Arbeitsfeld neben Gouvernante und Lehrerin. Vielfältige Beschäftigungsmöglichkeiten und Aufstiegschancen gab es allerdings keine. Eher führte es dazu, dass Stenografinnen zur Tippse herabgesetzt wurden. Anstatt ihre eigenen Gedanken aufzuschreiben, hielten sie emsig die Ergüsse der Männer, ihrer Vorgesetzten fest.

„Männer wurden Chefs, Frauen Sekretärinnen. 1880 waren in den USA vierzig Prozent der Stenografen Frauen, 1900 waren es fünfundsiebzig und 1930 ganze fünfundneunzig Prozent. Die neue Technik hatte einen Beruf erschaffen und diesmal sogar einen, wo auch Jahrzehnte nach seiner Erfindung kein Mann daherkam, um sich zu beschweren, die Frauen würden ihnen die guten Jobs wegnehmen. Denn Sekretär wollte nun wirklich keiner sein.“

Hirsch entstaubt mit ihrem knalligen Band das Sachbuchgenre, schreibt mit Witz und Sarkasmus in einem lockeren Erzählton. Sie bietet neue Blickwinkel an und entfaltet spannende und interessante Anekdoten.

Fazit

Eine Wunderkammer faszinierender Objekte, die das Leben der Frauen durch die Geschichte beleuchten und die eine Vielfältigkeit aufzeigen, die in Geschichtsbüchern gerne ausgelassen wird. Informativ und unterhaltsam. Perfekt zum Schmökern.

Vielen Dank an Kein & Aber Verlag für das Leseexemplar und das Salonfestival für die großartige Veranstaltung am Weltfrauentag!

Annabell Hirsch „Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten“

Kein & Aber, 2022, 416 Seiten

ISBN: 978-3-0369-5880-4