Anne-Marie Garat „Der große Nordwesten“

Anne-Marie Garat „Der große Nordwesten“

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Die Zeit des Goldrausches, des Schlaraffenlands im Yukon Territories ist schon lange vorbei. Die verlassenen Häuser und heruntergekommenen Ruinen, die traurigen, übrig gebliebenen Gestalten zeugen davon. Und doch zieht es Lorna und ihre Tochter Jessie, die „stolzen Pionierinnen auf dem Dalton Trail“, in dieses abgelegene, gottverlassene Gebiet auf der Grenze zwischen Alaska und Kanada. Neugierig geworden will man wissen, was oder wen Lorna dort finden oder vor wem sie sich verstecken will und warum Jessie 15 Jahre später wieder dorthin zurückkehrt? Fragen um Namen, Identitäten und um die eigene Herkunft, wie diese einen prägen, wer man sein möchte, wer man ist, werden in Garats „Der große Nordwesten“ beleuchtet.

Worum geht es?

Ende der 1930er Jahre verlässt das Starlett Lorna del Rio nach dem Tod ihres Mannes mit ihrer sechsjährigen Tochter Jessie überstürzt Hollywood. Sie flüchten in den großen Nordwesten, Richtung Yukon und Alaska. Ihre Reise führt sie durch ein Land, das von Legenden geprägt ist: Legenden der First Nations und der indigenen Bevölkerung, der Goldsucher, Kopfgeldjäger und Trapper, der Western, Märchen und Abenteuerromane. Ausgestattet mit einer mysteriösen Karte, dem gestohlenen Geld von Jessies verstorbenem Vater und einem Gewehr stellen sich Mutter und Tochter der Wildnis und ihrer eigenen Vergangenheit. Schutzlos der Natur ausgeliefert und verfolgt von Kopfgeldjägern rettet die Begegnung mit Kaska, einer Indigenen der Gwitch’in First Nations, ihr Überleben. Doch was verbirgt Lorna, die mit jeder Station der Reise ihren Namen wechselt und neue Geschichten über ihre Herkunft erfindet? Und warum denkt das FBI, es müsste Jessie finden und retten? Eine große Erzählung über Nordamerikas Wildnis, die ein ganzes Universum faszinierender Figuren, Bilder und Landschaften bereithält. (Zusammenfassung des Verlags)

Wie fand ich es?

Die Handlung spielt auf zwei Zeitebenen: Wir folgen der sechsjährigen Jessie Cambell auf ihrer Reise in den Nordwesten zusammen mit ihrer Mutter Lorna del Rio. Verbunden werden die subjektiven kindlichen Erzählungen mit den erwachsenen Erinnerungen und Erkenntnissen Jessies in den 1950er-Jahren. Diese Verschmelzung von kindlichen Ansichten und dem rückblickenden Wissen eines Erwachsenen macht das Lesen spannend. Immer wieder hören wir die erwachsene Stimme Jessies, die eine Vermutung oder ein Ereignis neu interpretiert bzw. korrigiert oder die kindliche Erzählung ergänzt. Mir gefiel dieser fließende Übergang von damals ins Heute. Es hat die Erzählung verdichtet und realer erscheinen lassen. Immer wieder kehren wir in die Jetzt-Zeit mit Jessie und Bud zurück, den sie um Hilfe bittet und der ihre Geschichte aufschreibt. Die beiden Zeitebenen enthalten für sich jeweils Spannungselemente, da man sowohl wissen will, warum Lorna del Rio so überstürzt aufgebrochen ist und wer ihnen auf den Ferse ist, als auch, warum sich Jessie an diesen Lebensabschnitt erinnert, warum sie nun Hilfe braucht und wie das mit ihrer 15 Jahre zurückliegenden Vergangenheit in Verbindung steht. Was mich etwas gestört hat, war, dass erst weit hinten im Buch die Geschichte um die erwachsene Jessie Kontur annimmt.

Die beiden Hauptfiguren Jessie und Lorna haben mich überrascht. Lorna erscheint anfangs als reiche Gattin und Starlet aus Santa Monica, doch sie ist weit komplexer und vielschichtiger als sie uns wissen lässt. Seite für Seite offenbart sie mehr von ihrer Vergangenheit, wobei man an ihren Erzählungen immer etwas zweifeln muss. Auf ihrer Flucht erfindet sie sich von Ort zu Ort neu, gibt sich und Jessie neue Identitäten, erzählt neue Lebensgeschichten und nennt andere Gründe und Ziele ihrer Reise. Es stellt sich heraus, dass sie bereits viel erlebt hat, sich auf jede Lebenslage einstellen kann und ihre vielseitigen Fähigkeiten gerade in der weiten Wildnis der Wälder nützlich sind.

Der Kontrast zweier Welten Hollywood und die Wildnis Alaskas wird besonders an Jessie deutlich. Die ersten 6 Jahre lebt sie als Püppchen à la Shirley Temple unter einer Glasglocke, verzückt auf dem roten Teppich mit ihren rotgoldenen Löckchen, dem breiten Milchzähnelächeln, den süßen Grübchen und dem klimpernden Augenaufschlag. Auf der Reise zeichnet sich ab, dass sie um Anerkennung und Liebe ihrer Mutter kämpft. Die Beziehung zwischen Mutter und Tochter ist eher untypisch. Jessie himmelt ihre Mutter an, liebt sie so, wie sie ist, doch sie erhält nur wenig Herzlichkeit oder körperliche Zuwendung zurück. Häufig herrscht ein rauer Ton zwischen ihnen mit gelegentlichen warmen Worten: „Mein größtes Goldstück bist du.“ Daher stellt sie die eigenen Bedürfnisse zugunsten die ihrer Mutter zurück. Aus Angst, zurückgelassen zu werden, nörgelt oder beschwert sie sich nie und findet sich mit jeder Situation ab. Schläft in einer Anrichte einer ärmlichen Hütte anstatt in einem Himmelbett einer toskanischen Villa, reist mit einem alten Dodge oder zu Fuß durch Tiefschneelandschaften anstatt im Cadillac mit Chauffeur, hungert oder isst das, was verfügbar ist, anstatt eines 5-Gänge-Menüs. Ihre Reaktion auf den Tod ist auch eher nüchtern zu sehen.

„Hat man mit sechs Jahren noch kein Gewissen? Miss Plunkett sagte immer wieder, dass man vor dem Alter der Vernunft, das erst mit sieben Jahren beginne, weder Hirn noch Herz und auch keine Niere oder Seele besitzt. Zum Glück besaß ich noch kein Herz und keine Seele.“

Mit dem Eintritt in die weite Natur wandelt sie sich zu einem bewussten, aufmerksamen Mädchen, das schnell lernt, was es braucht, um in der Wildnis zu überleben: Fallen stellen, jagen, ausnehmen, sammeln. Sie lernt, die Natur und andere Menschen und Lebensweisen zu respektieren und auf die Weisheit der Alten zu vertrauen. Sie taucht in die indigene Lebensphilosophie ein. Auch in dieser Hinsicht ist diese Region spannend, in der sich verschiedene Lebensweisen, Religionen und Nationen kontrastreich berühren: Auf der einen Seite die First Nations, die im Einklang mit der Natur leben, ihre Mythen und Sitten pflegen, auf der anderen Seite die Kolonialisten, Pilgerer, Missionare, die sich das Land einverleiben, es ausgebeuten, zerstören und die Ureinwohner verschleppen, versklaven und betrügen.

Die Karte am Anfang des Buches hat mich besonders gefesselt, denn so war es möglich, den Weg von Lorna und Jessie in die raue Wildnis nachzuverfolgen und zu verstehen, wenn sie von bestimmten Orten sprechen. Auch konnte man durch Ausschlusskriterien versuchen zu erraten, wohin die Reise geht. Ich war nachher genauso besessen von der Karte wie Lorna.

Irritiert hat mich etwas das Cover, da ich eigentlich erwartet habe, dass ich in diesem indigenen Mädchen eine der Hauptfiguren wiedersehe. Doch steht es meiner Ansicht nach in keinem Zusammenhang zu der Geschichte der Hauptfiguren. Da hätte ich mir mehr Bezug zur Story nicht nur zur Umgebung gewünscht. Auch das Lesebild finde ich etwas anstrengend, da Kapiteleinteilungen gänzlich fehlen.

Garats poetische Sprache ist polarisierend. Ich schätze, entweder mag man sie oder eben nicht. Ich musste mich einlesen, denn gerade am Anfang war sie sehr bildgewaltig, auch mal ausschweifend, sehr metaphorisch. Da war Geduld gefragt. Besonders atmosphärisch sind ihre Landschafts- und Naturbeschreibungen, die mit der Erzählung sehr gut harmonieren. Wer würde nicht ein stimmungsgeladenes Bild beim Anblick der weiten Wildnis oder der Aurora Borealis erwarten? Verknüpft wird dies mit der Fantasie einer Sechsjährigen, sodass ein magisch zauberhaftes und fantastisch lebendiges Bild entsteht.

Fazit

Ein spannender Abenteuerroman mit atmosphärischen Naturbeschreibungen, der für alle interessant ist, die in eine andere Welt abtauchen wollen und gedankliche Ausschweifungen lieben.

Vielen Dank an Buch Contact und Goya Verlag für das Buchexemplar.

Der große Nordwesten

Anne-Marie Garat

Aus dem Französischen von Alexandra Baisch

Verlag GOYA, 2021, 432 Seiten

ISBN: 9783833742811