Anthony Doerrs »Wolkenkuckucksland«

Anthony Doerrs »Wolkenkuckucksland«

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„Fremder, wer immer du bist, öffne dies und siehe, was dich erstaunen wird.“

Anthony Doerrs »Wolkenkuckucksland« ist eine meisterhafte, staunenswerte, überraschende Globetrotter-Erzählung!

Es ist schon eine Weile her, dass ich einen so komplexen, inhaltlich verdichteten Roman gelesen habe! Gerade deshalb war die Lesegruppe, mit der ich mich über die Deutungsebenen und Parallelen austauschen konnte, so genial! Denn der Roman liefert ein Füllhorn an Überraschungen! Ein Kunstgriff vorweg: Doerr kreiert auf komplexe Weise drei ganz unterschiedliche Erzählstränge, die in verschiedenen Zeiten und Milieus spielen. So kommt man in den Genuss eines historischen, Gegenwarts- und Science-Fiction-Romans, die er zusätzlich mit dem fiktiven Epos vom Wolkenkuckucksland, das einst der Dichter Antonio Diogenes verfasste, verbindet. Dieses handelt vom Schäfer Aethon und seinen Abenteuern auf seinem Weg ins fantastische Wolkenkuckucksland. Allein diese Verknüpfungen aufzudecken, haben mich wieder wie eine junge Studentin im Germanistikseminar fühlen lassen (großen Dank an @anthonydoerr für diesen Jungbrunnen!). Und an alle Dozent*innen: »Wolkenkuckucksland« ist ein Roman der eine ganze Seminarreihe füllt!

Worum geht es?

Im Mittelpunkt dieses großen Romans stehen Kinder an der Schwelle zum Erwachsenwerden, die sich in einer zerbrechenden Welt zurechtfinden müssen. Anna und Omeir während der Belagerung und Eroberung von Konstantinopel 1453, Seymour, der aus fehlgeleitetem Idealismus einen Anschlag auf eine Bibliothek im heutigen Idaho verübt, und Konstance im Raumschiff „Argos“ in der Zukunft, auf dem Weg zu einem Exoplaneten. Was sie alle auf geheimnisvolle und geradezu atemberaubende Weise über Zeiten und Räume miteinander verbindet, ist eine Geschichte über ein utopisches Land in den Wolken. Anthony Doerr schreibt über menschliche Verbindungen – miteinander, mit der Natur, mit früheren und zukünftigen Generationen. Ihm gelingt es in diesem gleichzeitig wunderschön erzählten, außerordentlich spannenden und wirklich liebevollen Roman ins pulsierende Herz dieser Verwobenheit vorzudringen. (Klappentext des Verlags)

Wie fand ich es?

Spannend finde ich das Netz, das Doerr über die Jahrhunderte hinweg spannt. Die Figuren aus den unterschiedlichen Zeitebenen werden durch das jahrhundertealte Manuskript von Diogenes‘ »Wolkenkuckucksland« miteinander verbunden. Die Kinder aus Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft stehen auf ihre Weise im Bann derselben Geschichte und träumen sich in ihre eigene paradiesische Welt ohne Krieg, Katastrophen, Krankheiten und Zerstörung. Das Buch verleiht ihnen Stärke, Mut, Hoffnung, ist Seelentröster und Heilmittel zugleich.

Wie die Figuren zusammenfinden, wie die Geschichte vom Wolkenkuckucksland sie vereint, wird mit jeder Seite ein bisschen mehr gelüftet. Je weiter ich gelesen habe, desto tiefer bin ich in die Geschichte abgetaucht. Doerr zeichnet sehr sensibel zu jeder Figur eine eigene detailreiche Welt und erfasst ihre Gefühlslage. Die Hauptfiguren Anna und Omeir in der Vergangenheit, Zeno und Seymour im Heute und Konstanze in der Zukunft haben eine Gemeinsamkeit, sie stechen alle aus der Masse hervor, sind gezeichnet durch ihr Äußeres, eine Krankheit, ihre Herkunft, ihre Fähigkeit, ihre Fantasie oder Sexualität und werden daher ausgegrenzt. Und trotz ihres Leids erkennen sie das Gute in der Welt, sind somit die Gesunden unter den Irren.

„Ein Held kämpft für die, die nicht für sich selbst kämpfen können.“
Das trifft vor allem auf Seymour zu, eine Figur, die in mir widersprüchliche Gefühle hervorruft – Verständnis und Ablehnung, am Ende vor allem Erstaunen. Denn ihm geht es besonders nahe, dass die Menschen ihren eigenen Planeten zerstören, die Umwelt für ihre Profitgier vernichten. Der Trost seiner Mutter, „Wandel passiert, wir können ihn nicht aufhalten!“, erreicht ihn nicht. Seymour versucht – fehlgeleitet – seine Freunde und seinen Kraftort zu retten.

Spannend ist, wie der Weg dieses antiken Epos skizziert wird: von einer mündlich überlieferten Sage über handgeschriebene, mehrfach kopierte Bücher, über eine Version fürs Theater und das gedruckte Buch bis hin zur digitalen Form. Eine Buchgeschichte in der Geschichte. Diese Buchverliebtheit schlägt sich auch in den Figuren nieder. Sie erzählen Geschichten oder lauschen den Erzählungen, sie schreiben selber oder erforschen, wiederentdecken, übersetzen oder publizieren sie. Bücher spielen die heimliche Hauptrolle in diesem Roman.

„Ein Text, ein Buch ist ein Ruheort für die Erinnerungen von Menschen, die früher einmal gelebt haben. Es bietet Erinnerungen die Möglichkeit zu bleiben, nachdem die Seele weitergereist ist.“

Weitere besondere Anknüpfungs- und Verbindungspunkte der Figuren durch die Zeit stellen die Bedeutung von Vorlesen, das Einführen der Kinder in die Welt der Bücher und die reine Liebe zu Büchern dar. Besonders ist, dass das Buch als Wissens- und Heilquelle fungiert und einen Zufluchtsort und Freiheit darstellt. Mich hat Doerrs Bild und Bedeutungskraft von Bibliotheken und Büchern besonders in seiner Zukunftsvorstellung beeindruckt. Der „Bibliothekstag“ wird wie Geburtstag und Weihnachten zugleich gefeiert, vergleichbar mit der Kommunion der katholischen Kirche. Die Bibliothek ist der Treff- und Lebensmittelpunkt. Auch nutzen die Menschen auf der Argos bei der Suche nach Antworten keine weiße Suchmaske auf einen Bildschirm, sondern gehen in die Bibliothek, schlagen in einem Buch nach – gedruckt oder virtuell, die Buchform bleibt. Schöne Zukunftsvision!

Es sind die kleinen Dinge, die Details, auf die Doerr vor allem achtet. Er hat sehr viele inter- und intratextuelle Verweise, Bezüge zur griechischen Mythologie, griechischen Schrift und Sprache, antiken Literatur sowie zeitgeschichtliche Ereignisse eingeflochten. Das Entdecken der Parallelen im Leben der 5 Hauptfiguren und das, was die Figuren miteinander teilen, sind ein Lesevergnügen ohne Gleichen! Zum Beispiel haben Seymour und Zeno beide einen treuen Freund (TrustyFriend und Peisetairos = treuer Freund). Anna wie Konstanze tauchen in ihrer Fantasie in Bibliotheken ein, sie wandern durch die Geschichte und die Welt, wo sie in einsamen Stunden Frieden, Trost und Nähe finden. Omeir wie Seymour sind mit den Tieren verbunden und empfinden Trauer beim Anblick der Zerstörwut der Menschen. Bei Omeir stellen die Ochsen Mondschein und Baum gleichzeitig auch das Versteck des Buches dar. Die Eulen sind auch ein sich wiederholendes Element, durchziehen das gesamte Buch und stehen für Weisheit und Wahrheit. Umgekehrt wird offenbar, dass vermeintliche Parallelen nicht zutreffen. Dass sich mehr dahinter verbirgt, als auf den ersten Blick erkennbar ist. So hat Sybil (Seherin, Wahrsagerin), die KI, die das Raumschiff steuert und alles menschliche Wissen speichert, jedoch nicht alle Antworten.

„‚Konstance‘, flüstert Jessi, ‚was ist rund, brennt und ist mit Müll bedeckt?‘ – ‚Die Erde!‘“
Trotz der unterschiedlichen Leben durchziehen bestimmte Themen die Zeitachse. Alle Figuren erleben Negatives: Umweltzerstörung, Klimakatastrophen, Kriegstreiben, Belagerung, Gefangenschaft, Flucht, Verlust der Eltern. Umweltschutz, Naturverbundenheit, Freundschaft und Liebe stellen den Gegenpol dar. Diese Dualität überlagert das Buch. Im Mittelalter zerstören langandauernde Kriegsvorbereitungen und Kriege die Natur durch Abholzung, Missbrauch von Ressourcen und Tierquälerei. In der Gegenwart wird die Umweltzerstörung an einem neuen Wohnbaugebiet deutlich, dem ein Wald zum Opfer fällt, sowie an der Zerstörung der Lebensräume in Korea in den 70ern. Auf der Argos wird betont, dass es nur einen Grund gab, die Erde zu verlassen: All diese vorausgegangenen Zerstörungen haben dazu geführt, dass die Erde kaum mehr für den Menschen bewohnbar war. Dürre, Hungersnöte, Stürme, Überflutungen, Vermüllung. Bei all dem Schlechten in der Welt hilft den Figuren der Gedanke an ihr Wolkenkuckucksland, an Hoffnung auf Gutes, auf Rettung.

Besonders toll ist, dass man den Roman auf zwei Arten lesen kann, indem man versucht, alle versteckten Parallelen und Verweise zu erkennen und zu deuten, oder indem man einfach der Geschichte folgt und in die Welt der Figuren eintaucht. Kritisieren kann man, dass der Roman bzw. die Konstruktionen vielleicht etwas zu verkopft sind, dass er Überreich an Elementen ist.

Fazit

Jede neue Auflösung zum Ende hin hat mich zum Staunen gebracht. Das gesamte Buch, besonders aber das Finale sind wahnsinnig fantasievoll, überraschend, unvorhersehbar. Wie kommt man nur darauf? Eine Meisterleistung!

 

– Das Buch wurde mir freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt. –

Wolkenkuckucksland

Anthony Doerr

Übersetzt von Werner Löcher-Lawrence

C.H. Beck Verlag

532 Seiten, gebunden

ISBN 978-3-406-77431-7