Caroline Schmitt „Liebewesen“

Caroline Schmitt „Liebewesen“

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Mal liebevoll, beschützend Umarmen und mal genervt in die Ecke pfeffern … wollte ich das Buch. Mal habe ich herzhaft gelacht und traurig geseufzt, mal habe ich mit den Augen gerollt und die Stirn kraus gezogen. Klar ist, es ist keine einfache Lektüre. Denn Caroline Schmitt behandelt in ihrem Roman „Liebewesen“ gewaltige Themen, wie gefühlskalte, abwesende Elternteile, Vergewaltigung, gestörte Körperkonzepte, Depression, Schwangerschaftsabbruch, toxische Beziehungen.

Worum geht es?

Vor drei Monaten war ich sicher, dass ich nicht schwanger werden konnte. Dann war ich sicher, dass der Abbruch erfolgreich gewesen und ich in meinem Körper wieder allein war. Ich lag in beiden Fällen daneben.

Lios Körper ist ihr Albtraum, daran ändert auch ihr Freund Max nichts. Als sie ungeplant schwanger wird, starrt sie nicht nur fassungslos auf den positiven Test, weil jemand wie sie doch gar nicht schwanger werden kann, sondern auch auf das Ende einer mühsam erarbeiteten Normalität. Sie ist unfähig, Max von der Schwangerschaft zu erzählen, und genauso unfähig, diese zu beenden. Während das Kind in Lios Bauch wächst, prasseln Erinnerungen auf sie ein: an ihre kalte Mutter, ihren hilflosen Vater und an all das andere, das sie für immer vergessen wollte. Zum ersten Mal stellt sie sich ihrer Vergangenheit – und riskiert damit, dass alles zusammenbricht. (Verlagstext)

Wie fand ich es?

Die Ich-Erzählerin Lio hat sich eigentlich in ihrem Leben gut eingerichtet: Sie hat eine tolle Stelle als Biologin, die sie voll ausfüllt, eine verlässliche Freundin und gleichzeitig tolle Mitbewohnerin. Lio ist genügsam, verlangt nicht viel von ihrem Leben. Mariam, ihre einzige Freundin, will, dass sie ihre Sexualität auslebt, und findet auf Tinder Max, mit dem sie für Lio ein Date arrangiert. Dass es mit Max ganz anders wird als erwartet, zeigt schon das zweite Date: Sie verabreden sich in Max‘ Badewanne.

Als Leser*in wird einem mehr und mehr bewusst, dass Lio nicht zurückhaltend aus Schamgefühl oder Schüchternheit ist. Sie vermeidet Körperkontakt und Intimität mit anderen, fühlt sich aber auch in ihrem eigenen Körper fremd. Neben einer wenig idyllischen Kindheit, einem Zuhause, das ihr keine Geborgenheit schenkt, sondern vielmehr Todesängste, muss sie auch Gewalterfahrungen von Fremden verarbeiten. Daher ist auch Lios Gefühlswelt beim Geschlechtsverkehr mit Max ambivalent. Sie ist angespannt, geistig abwesend, am liebsten wäre sie wohl bewusstlos. Dass diese Qual für sie zu einer Freude wird, ist erst einmal kaum vorstellbar. Schmitt erzählt ohne viel Aufsehen von diesem Leid. Ihre unmittelbare, flotte Erzählweise kommt unerwartet daher, aber überwältigt einen dann umso mehr.

„Ich dachte während Umarmungen immer nur daran, wie selten ich Menschen berührte, wann auch und vor allem warum auch? Dann wartete ich, ob ich traurig wurde, weil Körperkontakt wichtig war, auch für das Immunsystem, aber ich spürte nur ein leichtes Unwohlsein wegen der Berührung eines anderen Menschen. Besonders gut fühlte sich das nicht an, das konnte mir niemand weismachen.“

Max, der sie aus sich herausholen vermag, hat ebenfalls mit Dämonen zu kämpfen. Auf Zeiten mit vielen Highlights folgen düstere Dog Days, wie er seine depressive Phase nennt. Er hat verrückte, spontane Ideen, will viel erleben, verspürt aber auch Angst davor, dass sein Leben nicht erfüllend ist. Dann kann er aufbrausend, deprimiert und lethargisch sein.

„‚Warum machst du alles so bunt?‘, fragte ich.

Max antwortete nicht direkt. Erst als wir wieder auf den Sitzen saßen und Richtung Strand fuhren, sagte er:

‚Damit noch ein bisschen Farbe da ist, wenn die große Schwarzmalerei losgeht.‘“

Trotz der problematischen Erfahrungen auf beiden Seiten funktionieren sie zunächst als Paar, mit der Zeit wird es allerdings hoch explosiv. An guten Tagen können sie sich gegenseitig stützen, an weniger guten Tagen zerstören sie sich gegenseitig. Bis zu einem gewissen Grad lassen für Lio die schönen Momente mit Max die hässlichen vergessen. Als sie aber den positiven Schwangerschaftstest in Händen hält, ist die Entscheidung über ihre Zukunft schnell getroffen.

Deutlich wird, dass beide Figuren eine schwere Last mit sich tragen, die sie unfähig sind zu bewältigen. Diese Lasten kommen bei Lio erst zögerlich und dann aber mit Wucht ans Tageslicht. Alles scheint sich mit dem positiven Schwangerschaftstest zu ändern. Sie setzt sich mit ihren Körper auseinander, stellt ihre Beziehung zu Max infrage, trifft eine wohlüberlegte Entscheidung – und empfindet danach Zufriedenheit, Glück. Schmitt thematisiert die andere Seite der Schwangerschaft und spricht ohne Wertung über Schwangerschaftsabbruch und die Reaktionen des Körpers.

Das Besondere an diesem Buch ist, dass Schmitt das Gute wie das Schlechte der Protagonisten, der Beziehung in allen Aspekten erzählt. Sie zeigt auf, dass die einfachsten Sachen für die meisten bei traumatisierten Menschen zu Panik- und Fluchtreaktionen führen. Von den schweren Themen erzählt sie mit leichten, flockigen Worten, dass ich einige Stellen zwei-, dreimal gelesen habe, um zu begreifen, was tatsächlich passiert ist. Sie offenbart Lios Ängste und ihr Leid, das sie trotz Logik und Liebe verspürt.

„Wenn Gott eine Frau war, wollte sie vielleicht, dass ich wenigstens einmal über die Erfahrung sprach, der ich nie viel Raum zugestanden, die diesen Raum aber dennoch eingenommen hatte.

‚Ich hatte erst ein Mal Sex. Und das war nicht freiwillig.“

Anfang und Ende des Romans habe ich verschlungen, im Mittelteil hat sie mich allerdings verloren. Sie ist von einem Extrem zum nächsten gesprungen, es waren für mich zu abgedrehte Erlebnisse, eine vielleicht zu verrückte Beziehung – verrückt sowohl im negativen wie positiven Sinne. Mir ging einfach der Zugang zur Protagonistin verloren. Meine Gedanken reichten von spannend bis zu „ach je, das auch noch“. Dadurch bestärkte sich mein Gefühl, dass sie eher ein junges Publikum anspricht, dass der Roman eher in die Kategorie „Jugendroman“ einzuordnen ist.

„Ich bereute nichts. Dieses Kind hatte mir den Mut eingepflanzt, zum zweiten Mal in meinem Leben zu gehen, ohne zu wissen, was danach kam. Jetzt war ich frei.“

Fazit

Teils intensiv berührend und gefühlsgewaltig, teils kräftezehrend und verrückt. Eine Lektüre für Mutige, die vor problembeladenen Figuren und Beziehungen nicht zurückschrecken.

Vielen Dank an den Eichborn Verlag für das Leseexemplar.

Caroline Schmitt „Liebewesen“

Eichborn Verlag, 2023, 224 Seiten

ISBN 978-3-8479-0130-3