Caroline Wahl „22 Bahnen“ & Annika Büsing „Nordstadt“

Caroline Wahl „22 Bahnen“ & Annika Büsing „Nordstadt“

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Diese beiden Debütantinnen machen nicht nur ihre ersten Schwimmversuche, sondern springen direkt ins kalte, tiefe Wasser und kraulen wie Weltmeisterinnen – mutig und preisverdächtig. Warum die Wassermetapher? Wie ihr schon auf den Covern sehen könnt, in beiden Romanen spielt das Element Wasser eine entscheidende Rolle. Ob im Hallenbad, im Freibad oder im Eimer, es beruhigt und befreit die beiden Protagonistinnen, die eine von ihrer Vergangenheit, die andere von der Gegenwart.

„Es gibt Nächte, in denen ich noch immer das Wasser höre. Wenn du nicht weißt, was ich meine, geh ins Schwimmbad und tauche unter. Was Wasser für uns tut, ist: es schluckt alle Geräusche. Dass alles still ist.“

A. Büsing „Nordstadt“

In Annika Büsings „Nordstadt“ kämpft Nene, die in einem Viertel ohne rosige Zukunftsaussichten aufgewachsen ist, mit ihren inneren Dämonen. Als Jugendliche wurde sie vergewaltigt, hatte Eltern, die mehr mit ihrer eigenen Zerstörung beschäftigt waren, und einen Vater, der sie regelmäßig verprügelte und sich zu Tode säuft. Statt jedoch das Erlebte mit professioneller Hilfe zu verarbeiten, will sie nur alles vergessen. Dass das nicht so einfach ist, stellt sie in Situationen fest, in denen ihre Gefühle sie überschwemmen. Als gefühlt eine verkrüppelte Seele findet sie in dem Schwimmbadbesucher Boris, der an Kinderlähmung erkrankt ist, ihr Spiegelbild. Beide spüren, jemanden zu lieben und zu akzeptieren, geliebt zu werden, ist nicht leicht und dass Vertrauen in sich und in die Menschen um einen herum, das Nene durch ihren Vater und Boris durch die Erlebnisse mit seiner Krankheit verloren hat, langsam wachsen muss.

„Geschichten über meinen Vater zu erzählen […], das alles würde sein Verhalten womöglich in ein anderes Licht setzen. Dann könnte man denken: Ah, er tut das, weil dieses oder jenes passiert ist. Und das ist Bullshit. Denn es gibt keine Kausalität, die rechtfertigt, dass man Kinder schlägt, tritt, einsperrt und hungern lässt. Keine. Ich werde keine Geschichten über meinen Vater erzählen. Das hier ist meine Geschichte.“

A. Büsing „Nordstadt“

Besonders gut an diesem Roman hat mir der 3. Teil gefallen – sehr gefühlsgewaltig und intensiv. Auch finde ich die Sprache sehr erfrischend, vor allem die Dialoge zwischen Nene und Boris. Sie sind sehr direkt, nüchtern, aber liebevoll, die beiden sprechen freiheraus über wesentliche Dinge ihrer Beziehung, können genauso gut gemeinsam schweigen.

In Caroline Wahls „22 Bahnen“ dreht sich das Leben der Mathe-Studentin Tilda um ihre kleine Schwester Ida und ihre unzuverlässige, häufig betrunkene Mutter. Neben trügerischen Momenten der Klarheit und dem Anflug einer intakten Familie muss Tilda Ida vor den mütterlichen Launen und Schlägen beschützen. Daher erlaubt sie sich nicht, im Gegensatz zu ihren Freunden die Heimat zu verlassen und ein eigenes Leben zu beginnen. Uni, Arbeiten und Schwimmen sind neben der zerrütteten Familiensituation ihr Kosmos. Um sich ihren Traum einer Doktorandenstelle erfüllen zu können, schmiedet sie den Plan, Ida für die Zukunft und für das Leben allein mit ihrer Mutter zu stärken. Die Begegnung mit Viktor ruft zudem vergrabene Erinnerungen an ihren verunglückten Freund und dessen Bruder Ivan hervor und lässt neue Bande entstehen.

„Und es sind Momente wie diese, in denen ich begreife, dass ich gar nichts bereue und auch mit niemanden tauschen will. Ich lache laut, und Ida lächelt, weil sie sich freut, dass ich nicht mehr weine, dabei weine ich immer noch, aber ich lache auch laut, weil ich Ida habe und Ida mich hat.“

C. Wahl „22 Bahnen“

Eindrücklich beschreibt Wahl die außergewöhnliche Verbundenheit zwischen den ungleichen Schwestern, einer Kämpferin und einer stillen Künstlerin. Aus der Sicht von Tilda werden wir von Idas innerer Stärke überrascht und erleben ihre Selbstermächtigung – so traurig, dass das als Kind überhaupt notwendig ist!

„[…] als Ida und ich dann nebeneinander schwitzend den Berg hochtraben, fühlt es sich gut an. […] weil wir beide jeweils ein fester Teil, die Hälfte von einem Ganzen sind. Wir sind eine Familie. Wir sind ein intakter Organismus, wir funktionieren zusammen. Gestört werden wir nur durch den letzten Teil unserer Familie. Also eigentlich sind wir eine überwiegend intakte Familie. Zu 66,67 Prozent. Wir sind intakte Schwestern. Zu 100 Prozent.“

C. Wahl „22 Bahnen“

Fazit

Wahl und Büsing verarbeiten gewaltige Themen in ihren Romanen: elterliche Vernachlässigung und Gewalt, Alkoholsucht, Trauer, Wut, Depression, Traumata, Missbrauch. Trotz dieser dunklen Tiefe gehen wir und die Protagonisten darin nicht unter. Nene und Tilda, Boris und Ida kommen immer wieder an die Oberfläche und zeigen, dass es sich lohnt, für sich und andere zu kämpfen.

Nicht ohne Grund wird über die beiden Romane und Autorinnen viel diskutiert. Ich freue mich auf weitere Werke von ihnen.

Die beiden Bücher sind Geburtstagsgeschenk (Danke Mama) sowie selbst erworben.

Annika Büsing „Nordstadt“. Roman

Steidl Verlag, 2022, 128 Seiten

ISBN 978-3-96999-064-3

Caroline Wahl „22 Bahnen“. Roman

DuMont Verlag, 2023, 208 Seiten

ISBN 978-3-8321-8278-6