Catherine Cusset „Die Definition von Glück“

Catherine Cusset „Die Definition von Glück“

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Sympathie & Antipathie. Liebe & Ablehnung. Diese widersprüchlichen Gefühle haben die beiden Hauptfiguren Ève und Clarisse in Catherine Cussets „Die Definition von Glück“ in mir hervorgerufen. Sympathie und Zuneigung für ihre Stärke in dunklen Zeiten, für ihren Mut im Ungewissen, für ihre Offenheit und Herzlichkeit anderen gegenüber. Eher genervt und boykottiert haben mich ihre Unsicherheit und Hilflosigkeit, ihre Gutmütigkeit und ihr blindes Vertrauen Männern gegenüber.

Worum geht es?

Zwei Leben, zwei Frauen, die scheinbar vieles trennt. Clarisse ist eine Abenteurerin, liebt das Reisen und die Männer. Ständig verliebt, erlebt sie hohe Höhen und fällt in tiefe Tiefen. Ève hingegen leitet seit Jahren einen Edel-Catering-Service und führt mit ihrem Mann eine stabile Ehe. Die eine wohnt in Paris, die andere in New York. Über Jahrzehnte hinweg bekommen wir die Lebensgeschichten der beiden Frauen erzählt, erfahren von dem geheimen Band, das sie eint, und werfen einen erhellenden Blick auf unsere Zeit, eine ganze Generation von Frauen, ihre Sehnsüchte, Lieben, Abgründe, das Muttersein und das Älterwerden. Und begreifen, wie viele Möglichkeiten es gibt, das Glück zu definieren. (Verlagstext)

Wie fand ich es?

Im ersten Teil des Romans folgen wir im Wechsel den beiden Frauen Ève und Clarisse durch ihr Leben beginnend mit ihren Teenagerjahren. Aus unterschiedlichen Familienverhältnissen, die eine mutig, die andere ängstlich, gehen sie in die Welt hinaus. Machen positive wie negative Erfahrungen mit der Liebe, der Lust, dem Muttersein und Älterwerden. Aber beide Streben nach Glück in ihrem Leben, nach Erfüllung.

„Sechzehn Jahre jung sein und auf einer verlassenen Straße durch die stille Nacht rasen, […] während man die Taille des Jungen umschlingt, der einen gestern zum ersten Mal geküsst hat, und dabei die Wange an seinen Rücken drückt: Das konnte nur die Definition von Glück sein.“

Clarisse

Abwechselnd werfen wir mal einen Blick in Clarisses Leben mal in Èves. Diese Sprünge fand ich auf der einen Seite faszinierend, da wir immer wieder in einen neuen Lebensabschnitt geworfen wurden. Die Erzählung knüpft allerdings nicht an Vergangenes an, dies war auf der anderen Seite auch das Anstrengende. Es ist keine leichte Lektüre, der Überblick ging mir schon mal verloren. Nach wirklich spannenden ersten Kapiteln fehlte mir der Erzählfluss, eine Distanz zu den Figuren trat auf. Erst der zweite Teil der Erzählung, in dem Ève die Erzählstimme übernimmt, hat mich wieder ins Boot geholt. In der nun fortlaufenden Geschichte werden Lücken rückblickend gefüllt, und Erzähltes wird in einen Kontext gesetzt und zu Ende geführt. Gefallen hat mir der tiefere Einblick in Ève, der ich mich nun näher fühlen konnte, und begeistert war ich von der Tortenszene: genial, Clarisse!     

Das Packende am doch eher kniffligen ersten Teil war die Gegenüberstellung der beiden Frauenschicksale. Sie begegnen den Menschen ähnlich, sind aber von unterschiedlichen Erfahrungen geprägt. Clarisse ist leidenschaftlich, intensiv, einnehmend, frei, clever mit erotischer Energie und Lust am Leben. Ève ist stiller, diszipliniert, zielgerichtet, sparsam und arbeitseifrig mit einem angenehmen Wesen. Die beiden Frauen sind sich ähnlich – vor allem in ihren Marotten und Angewohnheiten – und doch unterscheiden sie sich voneinander wie Tag und Nacht.

„An einem Nachmittag spazierten Clarisse und ich (Ève) im Sprühregen einen der großen Strände entlang. Sie sammelte dabei Kieselsteine mit weißen Streifen. […] ‚Die kannst du doch nicht alle mitschleppen. Du machst dir den Rücken kaputt.‘

‚Ich habe schon Rucksäcke getragen, die schwerer waren.‘

‚Das macht doch keinen Sinn. Du bist verrückt.‘

Mit ihrer weichen Stimme und ihren blitzenden Augen sagte sie: ‚Für mich sind Leute verrückt, die an diesem Strand spazieren gehen, ohne Steine mit weißen Streifen zu sammeln.‘“

Mit ihrer weichen Stimme und ihren blitzenden Augen sagte sie: ‚Für mich sind Leute verrückt, die an diesem Strand spazieren gehen, ohne Steine mit weißen Streifen zu sammeln.‘“

Der offensichtlichste Unterschied mag ihre Familie und Beziehungen sein. Ève kann sich seit ihrem Studium auf Paul verlassen, der ihr treu zur Seite steht, sie unterstützt und ehrlich liebt. Clarisse hingegen verliert ihr Herz an einen Reisenden (in mehrfacher Hinsicht). Hendrick ist ein treuloser, respektloser Typ, der den Weg des geringsten Widerstands bevorzugt. So verwundert es auch nicht, dass er sich mit ihrer besten Freundin aus den Staub macht und sie mit drei rebellierende Jungs zurücklässt. Clarisse stellt die These auf, dass wir das Leben unserer Eltern fortführen. So lebt Ève wie ihre Eltern in einer stabilen, langlebigen Partnerschaft, ist im Beruf- wie im Privatleben gefestigt. Clarisse hingegen hat wie ihre Mutter nur kurze Liebschaften und gelegentliche Anstellungen vorzuweisen. Ihre größte Sorge, am Ende wie ihre Mutter einsam und allein zu sterben, treibt sie in heiße, wilde Affären, sucht sich Männer, die ihr allerdings zum Verhängnis werden.

„Sie (Clarisse) gehörte zu einer Linie von Frauen, die ihre Männer nicht halten konnten. Frauen, die sich selbst für wertlos hielten, Frauen, die man als Mann nehmen und wieder entsorgen konnte. […] ‚Die Struktur des Verlassenseins.‘“

Cussets Sprache ist stark, einnehmend und gefühlvoll. Sie breitet Glück und Unglück, Tragisches und Schönes der Charaktere vor uns aus und streift fast unscheinbar die großen Themen der Weltgeschichte.

„Für Clarisse existierte Glück nicht auf Dauer, nicht als Kontinuum (das war meine Form von Glück [Ève]), sondern als Fragment, als einzigartiger, funkelnder Diamantsplitter, auch wenn nach dem Funkeln der Absturz kam.“

Fazit

Weder Laissez-fair noch artifiziell, sondern eine wirklich gefühlsstarke, intensive Erzählung zweier parallel verlaufender Leben. Die abschließende Vernetzung beider Leben und Fortführung der Geschichte von Ève hat den Roman sinnvoll abgerundet.

Vielen Dank an den Eisele Verlag und Politycki & Partner für das Leseexemplar.

Catherine Cusset „Die Definition von Glück“

Aus dem Französischen von Sabine Schwenk

Eisele Verlag, 2022, 375 Seiten

ISBN: 978 3961611409