Daniela Dröscher „Lügen über meine Mutter“

Daniela Dröscher „Lügen über meine Mutter“

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Fürchtet ihr euch vor Büchern? Davor, was sie in euch auslösen? Gerade bei Romanen über gesellschaftskritische Frauenschicksale habe ich ein mulmiges Gefühl bereits vor der ersten gelesenen Seite, besonders wenn ich weiß, worum es geht. So war es auch bei Daniela Dröschers Roman „Lügen über meine Mutter“; ein Grund, warum ich die Lektüre vor mir hergeschoben habe. Ich musste mich auf die Wut, die die Geschichte wahrscheinlich in mir auslösen würde, vorbereiten und einlassen. Die Wut auf eine Gesellschaft, auf ein System, auf den Mann, auf die Frau. Darauf, dass Frauen so missachtet, auf ihr Äußeres reduziert und kleingehalten wurden. Ja, auch bei dieser Lektüre habe ich Wut im Bauch gespürt, überwältigt hat sie mich diesmal aber nicht, und zum Ende des Romans hin war sie fast verpufft. Die letzten Seiten haben mich doch versöhnt.

Worum geht es?

Daniela Dröscher erzählt vom Aufwachsen in einer Familie, in der ein Thema alles beherrscht: das Körpergewicht der Mutter. Ist diese schöne, eigenwillige, unberechenbare Frau zu dick? Muss sie dringend abnehmen? Ja, das muss sie. Entscheidet ihr Ehemann. Und die Mutter ist dem ausgesetzt, Tag für Tag.

»Lügen über meine Mutter« ist zweierlei zugleich: die Erzählung einer Kindheit im Hunsrück der 1980er, die immer stärker beherrscht wird von der fixen Idee des Vaters, das Übergewicht seiner Frau wäre verantwortlich für alles, was ihm versagt bleibt: die Beförderung, der soziale Aufstieg, die Anerkennung in der Dorfgemeinschaft. Und es ist eine Befragung des Geschehens aus der heutigen Perspektive: Was ist damals wirklich passiert? Was wurde verheimlicht, worüber wurde gelogen? Und was sagt uns das alles über den größeren Zusammenhang: die Gesellschaft, die ständig auf uns einwirkt, ob wir wollen oder nicht? (Verlagstext)

Wie fand ich es?

Dröscher erzählt in ihrem autobiografisch geprägten Roman aus der Perspektive der 8-jährigen Tochter Ela von den Beziehungsproblemen ihrer Eltern in den 1980er Jahren, die nur auf dem einen gründen: dem Übergewicht der Mutter. Ein Psycho-Thriller ohnegleichen.

Wütend gemacht hat mich vor allem das Verhalten des Vaters bzw. des Ehemanns, der seine Unsicherheit und Suche nach Anerkennung seiner Familie aufbürdet. Von Äußerlichkeiten geprägt wünscht er sich eine ansehnlich, schlanke Frau, die er auf Firmenfeiern, im Sommerurlaub und auf Dorffesten vorzeigen kann, wodurch er sich gesellschaftliche Bestätigung verspricht. Infolgedessen lässt er seine Frau zu Hause, geht alleine zu Festen, denn sie hält seinen Vergleichen mit anderen Frauen nicht stand. Er schämt sich für ihre Figur, wertet sie ab, drängt sie immerfort zu Diäten. Entsetzlich fand ich die Szene, als er ihre Gewichtsabnahme mit einer neuen Waage täglich kontrollieren und darüber Buch führen will oder sie erbarmungslos zur FdH-Diät zwingt (Friss die Hälfte). Sein Missfallen gipfelt in psychischer Gewalt, er beschimpft sie als „fett und schizophren“, „krank im Kopf“.

Gerade seine Obsession von einer normalen Familie mit schlanken Menschen zerstört das, was er sich aufgebaut hat, seine reale Familie. Ein friedliches Abendessen ist nicht möglich, eine ausgelassene Feier, ein entspannter Urlaub, ein Schwimmbadbesuch scheitern allesamt…

Dröscher fängt zudem – immer durch die Augen der Tochter – besonders gut das Zwischenmenschliche der Figuren ein, Regungen, Blicke, Körperhaltungen, die Verbitterung, Verachtung, Hoffnung ausstrahlen.

„Meine Mutter und ich waren geübt darin, seine Stimmungen zu erspüren. […] Sein Gesicht war unser Wetter. Er ließ sich in einer Ecke des Tisches auf den Stuhl fallen und schaute meine Mutter düster an. Die Beförderung könne er sich abschminken, das sei ihm heute klar geworden. Ein Mann ohne eine vorzeigbare Frau würde eine solch gehobene Stellung niemals bekommen. Nicht einmal  zur Weihnachtsfeier, zu der alle anderen Ehefrauen mitkämen, tauge sie.“

Nicht nur das Verhalten des Ehemanns, sondern auch das der Dorfgemeinschaft, der Menschen haben mich wütend gemacht. Menschen die anderen ein schlechtes Gefühl vermitteln, ihnen vorhalten, nicht genügend Wert zu sein. Auch das Vorurteil „Dicke Menschen seien faule Menschen“ wird hier ausgeführt und mit der Phrase „eine gute Figur machen“ unterlegt.

Zudem färbt das Verhalten des Vaters auf die junge Ela ab und beeinflusst ihre Sicht auf ihre Mutter. Sie ist hin- und hergerissen, überwältigt von Liebe und Reue. Sie schämt sich für das Gewicht ihrer Mutter, für die Blicke, die man ihnen in der Öffentlichkeit zuwirft.

„Die Scham gehörte einige Zeit so untrennbar zu mir wie das Atemholen. Erst mit den Jahren verstand ich, dass gar nicht ich es war, die sich schämte. Es war eine Scham zweiter Ordnung. Ich sah meine Mutter mit den Augen meines Vaters.“

Wütend war ich auch auf die Mutter selbst, weil ihr die Kraft fehlt, sich von ihrem Mann und seinen Erwartungen zu befreien. Sie ist doch klug, fleißig, finanziell unabhängig, trotzdem hält sie die dysfunktionale Ehe aufrecht, erträgt die täglichen Kränkungen. Warum? Ihre Schwäche ist zugleich auch ihre Stärke. Beeindruckt hat mich an der Mutter, dass sie nie aufgibt. Sie hätte sich ein leichtes, unbeschwertes Leben machen können, doch aus Pflichtgefühl und Liebe ihrer Familie gegenüber kämpft sie weiter. Sie lernt, sie arbeitet, sie kocht, betreut die kleine Tochter und pflegt die Alzheimerkranke Oma, managt die Bauarbeiten und Renovierungen am Haus und – nicht zu vergessen – kümmert sich um den gesamten Haushalt. Dröscher setzt mit diesem Roman ihrer Mutter ein Denkmal, denn nur eine starke Frau gelingt es, Familie, Fürsorge, Arbeit so hingebungsvoll zu vereinen, so selbstlos für andere da zu sein. 

„Als sie [Tante Lu] meine Mutter umarmte, staunte sie. ‚Wie viel du abgenommen hast. Jetzt bräuchtest du nur noch einen netteren Ehemann, dann hättest auch du was zu feiern.‘“

Die Schuld für die gescheiterte Ehe liegt jedoch nicht allein bei dem Mann. Beide sind sich fremd geworden, sprechen nicht miteinander. Traurig ist, wie wenig sich die Ehepartner tatsächlich verstehen und einander so akzeptieren, wie sie sind. Glückliche Momente sind selten.

„Mein Vater hatte sie kurz entsetzt angestarrt, aber die Katastrophe (verunglückte Dauerwelle) nicht weiter kommentiert, als wäre das nur ein weiterer Baustein in einer ohnehin schon großen Enttäuschung. Der flehentliche Blick, mit dem meine Mutter versuchte, ein freundliches Wort von ihm zu erhaschen, war vergebens. Im Grunde hatte sie es nicht anders erwartet, und doch schien es etwas in ihr zu geben, das darauf gehofft hatte, dass er so etwas sagt, wie: Ach, ist doch gar nicht so schlecht.“

Neben dem Körpergewicht und der Bedeutung des Aussehens verarbeitet Dröscher weitere wichtige Themen: un-/gewollte Mutterschaft, Care-Arbeit, finanzielle Unabhängigkeit, Klassenunterschiede und sozialer Aufstieg, Herkunft im Nachkriegsdeutschland.

„Immer gab es jemanden, den sie retten, pflegen, heilen, versorgen musste. Zu dieser Rolle hat man sie erzogen. In ihrer Fähigkeit zur Sorge bestand und besteht ihr größter gesellschaftlicher Nutzen. […] Doch eine einzelne Frau kann sich nicht um unendlich viele Menschen kümmern. Empathie und Sorge sind begrenzte Ressourcen. […] Die Antwort ist längst da: eine Care-Revolution. Seltsam, die beiden Wörter nebeneinanderzusehen: „Care“ und „Revolution“.

Unterbrochen wird die Erzählung von den Reflexionen der erwachsenen Ela und aktuellen Gesprächen mit ihrer Mutter über diese Zeit. Diese Einschübe fand ich sehr wichtig, um einzelne Szenen zu vertiefen oder sie durch eine erwachsene Sichtweise zu ergänzen. Dröscher entlarvt darin die manipulierende Handlungsweise ihres Vaters und stärkt die Liebe und Bewunderung für ihre Mutter. Auch die Ansichten und Erklärungsversuche der Mutter der Tochter gegenüber sind spannend. Von diesen Kapiteln hätte ich mir mehr gewünscht, da die Perspektive eines Kindes doch deutlich eingeschränkt ist.

„Wenn ich jemals eine Autobiographie schreiben sollte, müsste sie den Titel ‚Zu‘ tragen. ‚Zu arm‘, ‚zu krank‘, ‚zu dick‘ oder ‚zu schwach‘. Mein ganzes Leben lang ist immer irgendwas an mir zu wenig gewesen. Oder zu viel.“

Fazit

Ehrlich und eindringlich! Ein wertvoller Roman über psychische Gewalt und Manipulation, über das gestörte Selbstbild und die Stärke und Mut zur Selbstermächtigung.

Großes Dankeschön an den Kiepenheuer & Witsch Verlag für das Rezensionsexemplar.

Daniela Dröscher „Lügen über meine Mutter“

Kiepenheuer & Witsch Verlag, 2022, 448 Seiten

ISBN: 978-3-462-00199-0