Delphine de Vigan „Die Kinder sind Könige“

Delphine de Vigan „Die Kinder sind Könige“

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„Das elterliche Sorgerecht steht dem Vater und der Mutter zu, um das Kind und seine Sicherheit sowie seine körperliche und moralische Unversehrtheit zu schützen, seine Erziehung zu gewährleisten und seine Entwicklung unter Respektierung seiner Person zu ermöglichen.“ 

(Artikel 371-1 des Code Civil, frz. Grundgesetz)

Und wenn die Eltern nicht in der Lage sind, dieser Pflicht nachzukommen – im offensichtlichsten Fall, wenn das Kind körperlich misshandelt wird –, greift in der Regel das Jugendamt ein. Doch was passiert, wenn Eltern ihre Kinder medial inszenieren, ihre eigenen Wünsche und Sehnsüchte auf ihre Kinder projizieren und damit den Lebensunterhalt verdienen? Die Kinder leben in Wohlstand und Luxus, aber ohne Privatsphäre und Macht über ihr Leben. Gesetze können bisher wenig ausrichten, auch neu eingeführte Verschärfungen sind zu schwammig, und diese Tatsache sowie die Folgen für Kinder und Familien insgesamt zeigt Delphine de Vigan in „Die Kinder sind Könige“ auf.

„Happy Récré war ein Geschenk, das sie ihrer Familie gemacht hatte. Ein Geschenk, das Glanz in ihr gemeinsames Leben gebracht hatte.“ (Mélanie)

Worum geht es?

Mélanie war als junges Mädchen ein großer Fan von Formaten wie ›Big Brother‹. Sie hatte stets davon geträumt, gesehen und berühmt zu werden. Jahre später, als Mutter zweier Kinder, ist es ihr gelungen: Sie ist eine erfolgreiche YouTuberin mit Tausenden von Followern. Objekt ihrer Videos und Posts sind ihre Kinder, die auf Schritt und Tritt gefilmt werden. Seit Kurzem kommt ihre kleine Tochter dem Filmen jedoch immer unwilliger nach. Mélanie tut das als eine Laune ab. Denn wie könnte man die unendliche Liebe, die ihnen aus dem Netz entgegenkommt, als Last empfinden? Kurz darauf verschwindet Kimmy nach einem Versteckspiel spurlos. Wie, fragt sich die ermittelnde Polizeibeamtin Clara, soll man einen Verdächtigen ausmachen bei einem Kind, das Tausende Menschen kennen und mehrfach täglich sehen? Schnell begreift sie, dass ihre Methoden der Ermittlung in der virtuellen Welt vollkommen nutzlos sind … (Zusammenfassung des Verlags)

Wie fand ich es?

Alles beginnt mit Mélanie Claux‘ Traum, berühmt, bewundert und von allen geliebt zu werden. Im Reality-TV gelingt es ihr nicht, doch mit den aufkommenden Social-Media-Formaten tut sich eine neue Welt für sie auf. Sie inszeniert ihre Familie, vor allem ihre beiden Kinder Kimmy und Sam, in ihrem YouTube-Kanal Happy Récré sowie auf Instagram und Co. Mit steigenden Abonnentenzahlen steigen auch die Zahl der Sponsorenverträge und die Werbepartnerschaften und für Kimmy und Sam die Pflicht, Werbepakete auszupacken (Unboxing), Produkte vorzustellen, lustige Challenges zu machen (Ja-Challenge, Farben-Challenge), pranks sowie willkürlich zu konsumieren. Melanie führt Drehbuch und Regie, die beiden Kinder sind Schauspieler in ihrem eigenen Leben, lernen Texte auswendig, tragen Kostüme. Jeder „glückliche“ Moment wird für die Fans, für ihre „Lieben“ festgehalten. Mélanie ist von ihrem Erfolg und der virtuellen Liebe in Form von Herzen und Sternchen so eingenommen, dass sie ihre Kinder aus dem Fokus verliert. Sie droht sogar Kimmy, dass sie niemand mehr lieb haben werde, wenn sie die Videos nicht mehr drehen wolle. Kimmy ist zunehmend müde und erschöpft, wendet sich von der Kamera ab und vergisst ihren Text, muss Szenen wiederholen. Sie wirkt auf Außenstehende nicht wie ein glückliches Kind. Doch jeder Widerspruch und alle geäußerten Bedenken von außerhalb werden von Mélanie als Neid und Missgunst ihrer Familie gegenüber und auf ihr Glück ausgelegt. Scheinbar alles und doch nichts ändert sich, als Kimmy entführt wird.

„O ja, sie liebt es [den Videodreh]. Manchmal, wenn sie müde ist, ist sie ein bisschen widerspenstig, aber in Wirklichkeit ist sie sehr glücklich, so viele Fans zu haben, denken sie nur, das in ihrem Alter…“ (Mélanie über Kimmys Begeisterung für ihre Arbeit)

Der Entführungsfall Kimmy Diore wird durch Rückblicke in die Kindheit, Jugend und den ersten Erwachsenenjahren von Mélanie und Clara Roussel, der Ermittlerin, ergänzt. Durch die Verbindung der sachlichen Fallakten und den Figurenperspektiven beider Frauen wird Spannung aufgebaut, einem Kriminalroman gleich. Clara ist der Gegenpol zu Mélanie, ihre Kindheit fiel gänzlich anders aus als Mélanies. Sie wird von ihren Eltern geliebt und für ihre Entscheidungen respektiert, lernt früh Verantwortung zu übernehmen und für sich und andere einzustehen. Mélanie wächst mit dem Widerwillen ihrer Mutter auf, erfährt keine Liebe von ihr. De Vigan beschreibt die Beweggründe beider Frauen, ihren unterschiedlichen familiären Hintergrund und ihre Wünsche. Liegt darin bereits die Erklärung für Mélanies Narzissmus, Geltungsdrang und Liebesbedürftigkeit? Eine lieblose Kindheit ist vielleicht ein Puzzleteil, aber auch Clara muss mit sich kämpfen, lernen Liebe zuzulassen und Vertrauen zu schenken. Mir fiel es zunehmend schwer, Verständnis für Mélanie aufzubringen. Sie instrumentalisiert ihre Kinder, wirbt mit ihnen, stellt sie aus für ihr eigenes Glück. Sie raubt ihnen die Kindheit und Privatsphäre, entzweit die Familie. Einfach nur erschreckend und grausam!

„Ich glaube nicht, dass ein dreijähriges Kind davon träumt, YouTube-Star zu werden. Sie haben ihr Lächeln gelernt wie dressierte Affen ihre Nummern. Glauben Sie etwa, die dürften sagen, ‚Nein, ich kann nicht mehr, ich höre auf“, wenn die ganze Familie von den Einkünften aus den Videos lebt?‘“

Vielen bekannten Kinderstars aus der Film- und Musikwelt wurde der frühe Ruhm zum Verhängnis, sie sind an ihrer Popularität zerbrochen (bspw. Macaulay Culkin, Britney Spears, Aaron Carter, Lindsay Lohan, Mischa Barton, Jamiee Foxworth …). Was passiert mit Kindern, die nicht durch Filme berühmt werden, sondern durch ihr eigenes Leben, einem Leben ohne Rückzugsorte, durch private Momente, die mit der ganzen Welt geteilt werden und im Internet jederzeit abrufbar sind? De Vigan macht auf die teuflische Dynamik der sozialen Medien aufmerksam und zeichnet ein erschreckendes Bild über die künstliche Welt des Internets, den Sog von Social Media sowie mögliche Konsequenzen für Kinder von Influencern. Folgen dieses Abhängigkeits- und Suchtverhalten sind psychische Leiden im Erwachsenenalter sowie eine gebrochen Eltern-Kind-Beziehung. De Vigan gibt mögliche Antworten auf die Fragen: Was macht diese Welt mit der Kinderseele, wie wirkt sie sich auf die Entwicklung und das Erwachsenwerden auf?

Fazit

Nach dieser Lektüre bin ich noch dankbarer für meine „normale“ Kindheit! „Die Kinder sind Könige“ ist ein wichtiger gesellschaftskritischer Roman, der aktuelle Themen anspricht und zum Nachdenken über das eigene Medien- und Konsumverhalten anregt sowie die Gefahren für Kinder und Jugendliche im Internet verdeutlicht. Essenziell für alle Social-Media-Nutzer*innen.

unbezahlte Werbung, Buch selbst gekauft

Die Kinder sind Könige

Delphine de Vigan

Roman, aus dem Französischen von Doris Heinemann

2022, DuMont Buchverlag, 320 Seiten

ISBN 978-3-8321-8188-8