Virginie Despentes „Liebes Arschloch“

Virginie Despentes „Liebes Arschloch“

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„Hör auf, ständig einen auf armes Würstchen zu machen, das geht mir wirklich auf den Zeiger, ich kann dich nicht die ganze Zeit bemitleiden. Du hast wahrscheinlich mehr Dreck am Stecken, als du erzählst.“ Rebecca zu Oscar

Zsuzsa Bánk „Schlafen werden wir später“ oder Daniel Glattauer „Gut gegen Nordwind“ haben vor einigen Jahren den Briefroman entstaubt und wieder salonfähig gemacht. Die E-Mail-, Chat-, Forum- bzw. Blog-Diskussion ist zeitgemäß und im Gegensatz zum eigentlichen Briefroman viel unmittelbarer und dadurch auch ehrlicher – so wie „Liebes Arschloch“ von Virginie Despentes.

Despentes greift auf das Briefmedium zurück, um das Verhalten der Figuren, große Themen, wie Freundschaft und Empathie, und die Bewältigung aktueller Krisen kaltschnäuzig und rigoros offen in einem persönlichen Rahmen zu sezieren, ohne sie zu bewerten. Das erledigen die Figuren schon selbst. Oscar, Schriftsteller, und Rebecca, Schauspielerin, sind zunächst die beiden Hauptfiguren, die sich in ihren ausführlichen E-Mails über seinen #MeToo-Skandal, Feminismus, Drogenprobleme und aktuelle Geschehnisse, bspw. Covid-19-Pandemie, austauschen. Begonnen hat alles mit einem hässlichen beleidigenden Post über Rebeccas Alter und Figur von Oscar. Nach ihrer bissigen Replik „Liebes Arschloch, …“ und weiteren bösen Mails entwickelt sich aus dem anfänglichen harten Schlagabtausch immer mehr ein freundschaftliches intimes Zwiegespräch. Zoé, die dritte Person im Bunde, kommuniziert im öffentlichen Raum via Blogeintrag über Oscars Übergriffigkeit und Terror, ihren Feminismus und die Beziehung zu Rebecca.

Worum geht es?

Rebecca, Schauspielerin, über fünfzig und immer noch recht gut im Geschäft. Oscar, dreiundvierzig, Schriftsteller, der mit seinem zweiten Roman hadert, und Zoé, noch keine dreißig, Radikalfeministin und Social-Media-Aktivistin.  Diese drei, die unterschiedlicher nicht sein könnten, treffen nach einem verunglückten Instagram-Post Oscars aufeinander. Wie? Digital. Und so entsteht ein fulminanter Briefroman des 21. Jahrhunderts, in dem alle wichtigen gesellschaftlichen Themen unserer Zeit verhandelt werden. Rebecca, Oscar, Zoé, alle drei sind vom Leben gezeichnet, voller Wut und Hass auf andere – und auf sich selbst. Aber sie müssen erkennen, dass diese Wut sie nicht weiterbringt, sondern nur einsamer macht, dass Verständnis, Toleranz und sogar Freundschaft erlernbar und hin und wieder sogar überlebenswichtig sind. (Verlagstext)

Wie fand ich es?

Das Besondere an Briefromanen ist die Ehrlichkeit des Schreibenden, denn er formuliert seine Gedanken, ohne sich vor der Welt rechtfertigen zu müssen. Er ist nur sich und seinem Adressaten verpflichtet – und dass Oscar und Rebecca scharf mit sich selbst und ihrem Gegenüber ins Gericht gehen, untermauert diese Authentizität. Das Hauptsujet dieses Briefromans ist die #MeToo-Debatte, die am Beispiel von Oscars damaligen Verhalten Zoé gegenüber ausgebreitet wird. Die Ereignisse, durch Zoés Blogbeiträge in Gang gesetzt, werden aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet: Opfersicht, die Sicht einer jungen und einer alten Feministin sowie Zeitzeugen aus zweiter Hand und die Tätersicht.

„Ich will, dass sie aufhört, über mich zu schreiben. […] Ich will, dass sie mich vergisst. Und ich verstehe nicht, wieso sie sich so an mir festkrallt. Ich kann nicht glauben, dass ich der widerlichste Typ bin, dem sie je begegnet ist. Das ist Übertragung. Irgendein Idiot hat ihr das Leben zur Hölle gemacht, und mir zahlt sie es heim.“ Oscar über Zoé

Für die Leser fällt die Zuordnung der Figuren in Opfer und Täter durch die vielen Perspektiven recht leicht, nur für Oscar ist dies nicht ganz so klar. Er sieht sich anfangs selbst als Opfer einer bösartigen Verleumdung. Denn er habe sich doch nur in die junge Pressereferentin verliebt und ihr beflügelt durch seinen beruflichen Erfolg Bewunderung entgegenbringen wollen. Dass sie „Nein!“ gesagt, Anrufe und E-Mails beruflich gehalten hat, ihm aus dem Weg gegangen ist, nie mit ihm alleine sein wollte und Angst und Tränen in den Augen hatte, sei ihm entgangen – Drogen, Alkohol und das männliche Ego sei Dank. Seine Empörung über Zoes Anklage und die Reaktionen im Netz sind vor allem als Leserin erst einmal schwer zu schlucken. Seine Arroganz und Blindheit, die Art, wie er über Frauen spricht, sie anschaut und behandelt, zeugen von seiner männlichen Überlegenheit. Trotzdem hat auch er zu kämpfen mit seinem Bild von Männlichkeit in Verbindung mit seinem sozialen Aufstieg vom Stahlarbeiterkind zum Akademiker. Er hat weder Selbstbewusstsein noch Strahlkraft, seine literarische Tätigkeit ist die einzige Möglichkeit für ihn, Bewunderung von Frauen zu erlangen.

„Er ist ein Arschloch, ich weiß. Aber er ist auch ein Kumpel. Viele meiner Kumpel sind Arschlöcher. Liegt wahrscheinlich daran, dass ich selbst auch nicht besser bin.“ Rebecca

Durch den Briefverkehr mit Rebecca, seinen NA-Meetings und der verbesserten Beziehung zu seiner Tochter und Schwester zeichnet sich langsam ein Wandel ab – so viel darf verraten werden. Gezeigt wird, dass Gespräche dazu führen können, Toleranz wachsen und Empathie entstehen zu lassen.

„Du hast immer noch was von einem Arschloch, aber du bist bei Weitem nicht mehr so schlimm wie früher.“ Schwester zu Oscar

Despentes thematisiert mit dem Briefroman neben dem Austausch im privaten, geschützten Raum per Mail die öffentliche anonyme Diskussion, die schnell in Hasskommentaren und Drohbotschaften endet. Denn deutlich wird auch, dass es nicht viel braucht, um im Netz zur Zielscheibe von Cybermobbing und Shitstorms zu werden. Gerade Frauen, vor allem Feministinnen, Lesben oder Bisexuelle, erfahren verstärkt Mobbing. Zum Beispiel trifft Zoé mehr Häme im Netz als Oscar, denn sie wird von der männlichen Community gemobbt, Oscar erhält überwiegend Unterstützung von Fans und Männern und geht aus dieser Krise sogar finanziell gestärkt hervor.

„[…] der öffentliche Raum ist Jagdrevier. Nicht alle jagen. Aber alle lassen den Jäger gewähren.“ Zoé

Neben dem #MeToo-Thema und der feministischen Bewegung beleuchten Rebecca und Oscar sowie Zoé mit Humor und philosophischer Nachdenklichkeit die Tücken der Film- und Literaturszene – die Macht der reichen weißen Männer, Frauen- und Männerrollen, der obligatorische Alkohol- und Drogenkonsum sowie das Cleanwerden und die Abstinenz. Rebecca beklagt vor allem die Präsenz bzw. Abwesenheit von Schauspielerinnen Ü50 in Film und Fernsehen. Angebote erhält sie nur für die Mutterrolle – nichts Aufregendes oder Forderndes für sie als Diva. Auch dass ihr Körper den Filmemachern gehört, reflektiert Rebecca – leicht abgeklärt und über der Sache thronend.

Durch die Mailings entwickelt sich aus der Einsamkeit zweier fremder Menschen eine ungewöhnliche Freundschaft. Beide profitieren voneinander, stärken sich gegenseitig und verändern sich. Gefühle, wie Wut, Angst, Empathie und Unsicherheit, finden ihren Ausdruck. Die Dialoge sind geistreich, frech und strotzen nur so vor wahrem Leben.

Fazit

Despentes gewährt uns einen tiefen Einblick in authentische Figuren, die gerade deswegen teils sympathisch, teils rotzig-hässlich sind. Ein spitzer und ehrlicher Briefwechsel, der uns laut und leise Toleranz und die Fähigkeit zuzuhören vermittelt sowie den Wert von Freundschaften aufzeigt.

Vielen Dank an den Kiwi Verlag für das Leseexemplar.

Virginie Despentes „Liebes Arschloch“

Aus dem Französischen übertragen von Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis

Kiepenheuer & Witsch, 2023, 336 Seiten

ISBN: 978-3-462-00499-1