Fatma Aydemir „Dschinns“

Fatma Aydemir „Dschinns“

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Das Streben nach Glück, nach Liebe, nach Freiheit – Fatma Aydemir „Dschinns“

Hüseyin Yilmaz kommt in den 1970er Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland. Er ist fleißig, will mit harter Arbeit seiner Frau Emine und seinen 4 Kindern ein gutes Leben ermöglichen. Ohne es zu merken oder es aufhalten zu können, hat das Bild seiner heilen Familienwelt Risse bekommen. Schweigen, Schwermut, Geheimnisse und Distanz prägen den Alltag. Jeder trägt eine Last mit sich, verschweigt seine Sorgen, um ihnen so keinen Raum zu geben. „Vielleicht sind das die Dschinns, die Wahrheiten, die immer da sind, die immer im Raum stehen, ob man will oder nicht, aber die man nicht ausspricht, in der Hoffnung, dass sie einen dann in Ruhe lassen, dass sie im Verborgenen bleiben für immer.“

Hüseyins älteste Tochter Sevda redet seit 5 Jahren nicht mehr mit ihm, sein ältester Sohn Hakan versteht nicht den Sinn in harter, ehrlicher Arbeit, den ihn Hüseyin vermitteln will. Seine Tochter Peri, die als Feministin die Lebenswelt ihrer Eltern kritisiert, besucht sie nur, um ihren kleinen Bruder Ümit zu sehen, und Ümit, der nach der Anerkennung seines Vaters strebt, zerbricht daran. Gerade aber Hüseyins plötzlicher Tod führt die Familie zusammen. Jeder mit seiner eigenen Geschichte, mit seinem eigenen Dschinn im Gepäck macht sich auf den Weg in die Istanbuler Wohnung. In die Wohnung, in der ihr Baba eine neue alte Heimat und Lebensglück zu finden hoffte, in der aber auch seine alten Geister umhertreiben.

Worum geht es?

Dreißig Jahre hat Hüseyin in Deutschland gearbeitet, nun erfüllt er sich endlich seinen Traum: eine Eigentumswohnung in Istanbul. Nur um am Tag des Einzugs an einem Herzinfarkt zu sterben. Zur Beerdigung reist ihm seine Familie aus Deutschland nach. Fatma Aydemirs großer Gesellschaftsroman erzählt von sechs grundverschiedenen Menschen, die zufällig miteinander verwandt sind. Alle haben sie ihr eigenes Gepäck dabei: Geheimnisse, Wünsche, Wunden. Was sie jedoch vereint: das Gefühl, dass sie in Hüseyins Wohnung jemand beobachtet. Voller Wucht und Schönheit fragt „Dschinns“ nach dem Gebilde Familie, den Blick tief hineingerichtet in die Geschichte der vergangenen Jahrzehnte und weit voraus. (Verlagstext)

Wie fand ich es?

„Vielleicht ist Familie ja nichts anderes als das, ein Gebilde aus Geschichten und Geschichten und Geschichten. Aber was bedeuten dann die Leerstellen in ihnen, das Schweigen? Sind sie die Lücken, die das ganze Konstrukt am Ende zum Einsturz bringen werden? Oder sind sie die Luft, die wir zum Atmen brauchen, weil die Wahrheit, die ganze Wahrheit unmöglich zu ertragen wäre?“

Von Figur zu Figur baut sich die Geschichte um die Familie Yilmaz auf, die Gedanken und Gefühle der Familienmitglieder bekommen einen Raum. Hüseyin und Emine, Sevda, Hakan, Peri und Ümit streben nach Glück, nach Liebe, nach Freiheit, die bei jedem anders aussieht.

Sevda hat mich sehr berührt. Ihr Leben wurde schon von Kindheit an fremdbestimmt. Sie wird in einem Dorf bei ihren Großeltern zurückgelassen, die sie umsorgen und pflegen soll. Dass Sevda ihre eigene Geschichte schreiben, ihre Träume leben will, wird nicht gesehen. Sie lernt, dass sie ihre Wünsche aussprechen muss, um sie zu realisieren. Sie kämpft für ein Leben in Deutschland bei ihrer Familie, für Sprachkurse und Bildung und für Arbeit. Sie setzt sich gegen ihre Eltern und ihren Ehemann durch und lässt sie zurück. Mit Fleiß und Ehrgeiz strebt sie nach beruflichem Erfolg, bekommt von anderen Menschen die nötige Anerkennung, die ihr ihre Familie verwehrt. Doch der Verlust lehrt sie, „[d]ass Lieben immer auch Hadern ist, immer eine Sehnsucht nach mehr, eine Kränkung darüber, dass nichts perfekt sein kann. Dass man nie genug sein kann. Dass man nie einfach zufrieden sein kann damit, wie die Dinge sind.“

Ümit ringt auf ganz andere Weise mit seiner Identität. Er verliert sich selbst in dem Streben, seinem Vater zu gefallen und ihm alles recht zu machen. Ein Aufkommen von Glück und Erfüllung findet er erst, als er zu sich selbst ehrlich ist und seine sexuelle Neigung zu akzeptieren versucht. Daraufhin erntet er allerdings nur Verachtung und Ekel. Gedankenspiralen, böse Geister, Dschinns verunsichern ihn erneut.

„Baba. Denn was ist denn ein Vater anderes als ein Eckpunkt, der einen Raum markiert, in dem es erst zu wachsen und aus dem es dann irgendwann auszubrechen gilt, ein Problem, an dem man sich abarbeitet, ein Spiegel, in dem man sein Leben immer wieder von Neuem betrachtet und weiß, wie es nicht sein soll, eine Art Anti-Ich?“

Peri findet ihr Glück darin, sich von den Vorstellungen und Erwartungen anderer zu befreien. Sie bestimmt selbst, wer sie ist. Deutlich wird jedoch auch, dass ihr etwas fehlt. Unwissenheit über ihre Herkunft sowie Schatten der Vergangenheit schweben wie ein Dschinn über sie und trüben ihre Zukunft.

Die starren Ansichten seines Vaters zu Familie und Arbeit zermürben Hakan. Er ist zerrissen zwischen dem Wunsch, frei zu leben, nicht gebunden an einem Arbeitsplatz, an Vorschriften und Regeln zu sein, und dem Wunsch, eine normale Familie mit seiner Freundin Lena zu gründen.

In jeder einzelnen Figur offenbaren sich Glück und Traurigkeit, Freude und Bedauern. Durch Hüseyns Tod kommt die Vergangenheit näher, die Dschinns der Familie, der Eltern wollen ans Tageslicht.

Fazit

Eine beeindruckend starke Familiengeschichte, die aufzeigt, wie wichtig Familie ist, aber auch wie wichtig es ist, aufeinander zuzugehen, miteinander zu sprechen und einander zuzuhören. Wunderbar und lesenswert!

Vielen Dank an den Hanser Verlag für das Leseexemplar.

Fatma Aydemir „Dschinns“. Roman

Hanser Verlag, 2022, 368 Seiten

ISBN: 978-3-446-26914-9