Gabrielle Zevin „Morgen, morgen und wieder morgen“

Gabrielle Zevin „Morgen, morgen und wieder morgen“

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„Aber Sam, willst du die Welt denn nicht mit magischen Augen sehen?“

„Ich sehe die Welt immer mit magischen Augen“, erklärte Sam. „Ich explodiere geradezu vor kindlichem Staunen.“

Das gemeinsame Weltenentdecken ist die Basis der Freundschaft von Sam und Sadie. Sie tauchen ein in magische Orte, in denen sie sich selbst, die Krankenhausumgebung und die Schmerzen vergessen können, in denen sie jemand anderes sein, sie Fehler machen, Leben verlieren und wieder und wieder von vorne beginnen können, bis sie einen perfekten Lauf haben.

„Es ist ganz einfach. Ich möchte etwas erschaffen, was die Leute glücklich macht. […] Aber ich möchte auch etwas Schönes machen. Etwas, das Kinder wie wir gerne gespielt hätten, um eine Weile ihre Sorgen zu vergessen.“

Worum geht es?

Mitte der 90er-Jahre in Massachusetts: An einer U-Bahn-Station trifft Sadie, hochbegabte Informatikstudentin und angehende Designerin von Computerspielen, ihren früheren Super-Mario-Partner Sam wieder. Die beiden beginnen, gemeinsam an einem Spiel zu arbeiten, und schnell zeigt sich, dass sie nicht nur auf freundschaftlicher, sondern auch auf kreativer Ebene ein gutes Team sind. Doch als ihr erstes gemeinsames Computerspiel zum Hit wird, brechen sich Rivalitäten Bahn, die ihre Verbundenheit zu bedrohen scheinen.

Ein Jahrzehnte umspannender Roman über Popkultur und Kreativität, Wagnis und Scheitern, über Verlust und über die Magie der Freundschaft. (Verlagstext)

Wie fand ich es?

Sadie, Sam und Marx erschaffen als Spieledesigner und -produzenten Welten, in denen sie ihre eigenen Erfahrungen, ihre Wünsche, Hoffnungen, ihren Schmerz hineinlegen. Die Spiele enthalten somit auch sehr viel von ihrer Persönlichkeit. Bei Ichigo, dem ersten gemeinsamen Game von Sadie und Sam, weist die zunächst geschlechtsneutrale Figur immer mehr Eigenheiten von Sam auf und wird so von allen mit ihm assoziiert. Dies rückt die Aufmerksamkeit der Spielebranche alleine auf Sam – die Spieledesignerin wird übersehen. Sam nutzt seine schmerzliche Kindheit, die langen Aufenthalte im Krankenhaus sowie die Geschichte von Sadies krebskranker Schwester Alice, um Mapleworld, eine der beiden Welten von Both Sides, zu erschaffen. Daraus entwickelt sich eine ganze Stadt mit Sam als Bürgermeister, die als Vorbild für freies Leben, soziale Gemeinschaft und Frieden steht – ein polarisierendes Spiel, das Menschen mit konservativen Ansichten provoziert.

Sadie verpackt in ihrer alleinigen Kreation Master of the Revels Marx‘ Shakespeare-Leidenschaft und ihren Wunsch nach Künstlerisches und Intellektuelles, in der Fortsetzung verarbeitet sie ihren Verlust. Das Spiel Pioneers hat Sam nur für Sadie geschrieben mit dem Gedanken, dass virtuelle Welten Menschen helfen können, Probleme in der realen Welt zu lösen.

Es zeigt sich, dass die beiden Hauptfiguren besser darin sind, ihre Gefühle füreinander durch Gaming und die gemeinsame kreative Arbeit ausdrücken als im Gespräch. Marx, das Bindeglied zwischen ihnen, hat die notwendigen Worte für eine intakte Freundschaft und Arbeitsbeziehung gefunden, zwischen ihnen vermittelt und sie so zusammengehalten.

„Zeig ihr, dass du für sie da bist. Wenn du kannst, bringst du ihr Kekse, ein Buch oder einen Film mit. Freundschaft […] ist ein bisschen so, wie ein Tamagotchi zu pflegen.“

Gefallen an Zevins Roman haben mir die ehrlichen Figuren. Sie sind nicht wie in den Games perfekt, unverwundbar und unsterblich. Sie sind sehr menschlich, d. h. sie sind egoistisch, hässlich, streiten sich und beleidigen einander, gehen sich aus dem Weg, denken das Schlechteste über den anderen, aber versöhnen sich auch wieder, empfinden Liebe und Zuneigung füreinander.

„Sich wirklich auf ein Spiel mit einem anderen Menschen einzulassen ist nicht ohne Risiko. Es bedeutet sich zu öffnen, sich zu entblößen und verletzlich zu sein. Es ist das menschliche Äquivalent zu dem Hund, der sich auf den Rücken wirft. […] Zum Spielen braucht es Vertrauen und Liebe.“

Den Aufbau des Romans fand ich stimmig. Die Rückblicke in die Vergangenheit von Sam und Sadie, ihre erste Begegnung aus beiden Perspektiven sowie den Einblick in das Leben von Sam und seiner Mutter vor dem Unfall vervollständigen die Figuren und offenbaren kleine Details, die im späteren Roman nebenher fallen – spannend diese zu entdecken (à „Was trinkt die schönste Frau von Koreatown“). Die Interviewausschnitte aus der Zukunft sowie die vorausschauenden mysteriösen Andeutungen des Erzählers haben mich etwas gequält, da sie sich erst beim Weiterlesen auflösen ließen. Besonders berührend war überdies der Abschnitt, der aus der Sicht von Marx erzählt. „Das Leben ist sehr lang, es sei denn, es ist kurz.“ Zevin hat zudem die weiteren Themen Sexismus und Frauen in der Gamingbranche, Rassismus und Gewalt gut eingeflochten.

Fazit

Man muss nicht Gamer*in sein, um dieses Buch zu mögen. Buchliebhaber*in alleine reicht schon aus. Denn Games mit ihren virtuellen Welten sind nichts anderes als erzählte Geschichten – mal düster wie ein Thriller, mal magisch wie ein Fantasyroman, mal herzlich wie ein Liebesroman. Zevin erzählt in warmem, lockerem Ton von Freundschaft, Liebe, Eifersucht und die Zuflucht in virtuelle Welten.  

Vielen Dank an den Eichborn Verlag für das Leseexemplar.

Gabrielle Zevin „Morgen, morgen und wieder morgen“. Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Sonia Bonné

Eichborn Verlag, 2023, 560 Seiten

ISBN: 978-3-8479-0129-7