Nguyễn Phan Quế Mai „Der Gesang der Berge“

Nguyễn Phan Quế Mai „Der Gesang der Berge“

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Bücher, die mich bewegen, geben mir nicht nur viel, sondern verlangen auch einiges von mir. Daher habe ich doch fast ein halbes Jahr gebraucht, um diesen berührenden Roman zu beenden. Es hat mich mitgenommen, traurig gemacht und erstaunt, welch schwere Schicksalsschläge die Hauptfigur Huʾoʾng und ihre Familie erdulden mussten. Gestärkt, ermutigt, berührt haben mich jedoch ihr Willen, das Gute in ihren Herzen zu bewahren, und ihre Stärke und Mut, sich aus den dunklen Tiefen wieder ans helle Tageslicht hervorzuarbeiten.

Ein so gewaltiger Roman, der noch lange in mir nachhallen wird – daher einfach: mein Lesehighlight 2021/2022!

„Ihr Leiden und ihr Tod hatten mich gelehrt, was Liebe und Aufopferung war.“ Huʾoʾng

Worum geht es?

Huʾoʾng wächst bei ihrer Großmutter auf, mitten im vom Krieg gebeutelten Hanoi der frühen 1970er Jahre. Der Vater ist auf den Schlachtfeldern verschollen, ihre Mutter folgte ihm in der Hoffnung, ihn zu finden. Und die Großmutter erzählt Huʾoʾng an den vielen langen Abenden die Geschichte ihrer Familie, eine Geschichte, die in Frieden und Wohlstand ihren Anfang nimmt, aber im Zuge fremder Besatzung, Landreform und Krieg eine Geschichte von Vertreibung, Flucht und unsäglichem Leid wurde. Doch die Frauen ihrer Familie sind stark und entschlossen, dem Schicksal eine lebenswerte Zukunft abzutrotzen.

Ein Familienepos, das ein ganzes Jahrhundert atmet, die bildgewaltige Geschichte eines leidgeprüften Volkes, ein beeindruckender historischer Roman, erzählt von einer vietnamesischen Autorin – so hat man von Vietnam im zwanzigsten Jahrhundert noch nicht gelesen.

Wie fand ich es?

Nguyễn Phan Quế Mais Erzählweise ist sehr besonders. Sie lässt mehrere Figuren sprechen und ihre Geschichte erzählen, am Ende ist es aber Huʾoʾng, die alles zusammenführt und eine Familiensaga daraus webt. Sie blickt auf ihre Kindheit in den 1970er-Kriegsjahren zurück, als sie mit ihrer Großmutter Diệu Lan vor Bombenangriffen fliehen musste. Diese Ereignisse nehmen den Anfang der Erzählungen der Großmama. Ihre Lebensgeschichte ist geprägt von Glück, Freude und Geborgenheit als Mädchen und junge Frau. Dann trifft sie und ihre Familie jedoch ein Schicksalsschlag nach dem anderen. Leid, Verlust, Schuld, Entbehrungen, Hunger, Armut, Heimatlosigkeit sind ihre Dämonen, mit denen sie unaufhörlich kämpft. Trotz dieser Dunkelheit hat Diệu Lan aber ihren Lebensmut nicht verloren. Sie strahlt selbst dann Zuversicht aus, wenn ich schon den Glauben an ein gutes Ende verloren habe. Ich lache und weine und kämpfe mit ihr. Sie ist eine bewundernswerte Protagonistin, die ungeachtet der harten Zeit, der Enttäuschungen durch Menschen, denen sie geholfen hat, ein friedliches, offenes, hoffnungsvolles Wesen bewahrt.

„Aber du bist jetzt alt genug, um zu wissen, dass die Geschichte sich in das Gedächtnis der Menschen schreibt, und solange diese Erinnerung weiterleben, besteht Hoffnung, dass wir es besser machen können.“ Diệu Lan

Wir lernen nicht nur die Familie kennen, sondern auch das Land und die Menschen. Es sind entbehrungsreiche Zeiten, gekennzeichnet von zahlreichen Kriegen durch Japanern, Franzosen, Amerikanern sowie Kämpfen zwischen Nord- und Südvietnamesen. Dazu kommen die Große Hungersnot und die Landreform. Die Autorin thematisiert zudem die Folgen eines totalitären Regimes, von Propaganda und Zensur und die Aufspaltung der Menschen in denen, die sich dem Staat verpflichten, und denen, die für ihre Freiheit kämpfen – immer nah an den Figuren ihrer Geschichte. Die fast über ein Jahrhundert währenden Qualen des Landes spiegeln sich in den Qualen Huʾoʾngs auseinandergerissenen Familie wider. Besonders faszinieren mich Nguyễn Phan Quế Mais Frauenfiguren, die auf der einen Seite gekennzeichnet sind durch viel Leid, persönlichen Schicksalsschlägen, harten Entscheidungen, Selbstzweifeln. Auf der anderen Seite befreien sie sich davon, haben Hoffnung, halten an dem Guten fest und vergessen nie die Bedeutung von Familie. Auch sind sie ihrer Zeit voraus, Gleichstellung und Bildung sind für sie selbstverständlich. Diệu Lan lehnt zudem sinnlose Bräuche (Zähneschwärzen der Frauen) und überkommene Ansichten (Handel, Kapitalismus) ab – sie agiert selbstbewusst, mutig, gebildet und klug mit Herz. Außergewöhnlich ist auch die Vermittlung von Werten, wie Aufrichtigkeit, Ehrung älterer Familienmitglieder und der Ahnen sowie Menschlichkeit.

„Die Herausforderungen, denen sich das vietnamesische Volk stellen musste, sind so groß wie die höchsten Berge. Ich habe weit genug weg gestanden, um die Gipfel der Berge sehen zu können, und doch nah genug, um Zeugin zu sein, wie Großmama selbst zum höchsten Berg wurde: immer da, immer stark, immer ein Schutz für uns.“ Huʾoʾng

Besonders wertvoll ist die Sprache der Autorin. Sie ist sowohl zart und gefühlvoll wie auch mit Sprachgewalt, die mich in ihren Bann zieht – sehr poetisch. Bildhafte Wendungen, sprechende Namen (Tâm = gutes Gewissen; So‘n ca – der Berg singt = Gesang steigt bis zum Himmel und bringt die Seelen der Toten zurück) und Orte sowie vietnamesische Volksweisheiten gestalten den Roman zu einer lebendigen Geschichte.

„Meine Mutter war wie ein entwurzelter Baum. Sie saß immer nur auf dem phan, den Blick leer und in die Ferne gerichtet. Aber [ihre Geschwister] ließen sie nicht allein. Sie umringten sie, wurden zur Erde ihre Lebens und verlangten, dass sie neue Wurzeln trieb.“ Huʾoʾng

Fazit

Trotz der vielen Rückschläge und Widerstände, die die Familie erdulden musste, weswegen ich manchmal kaum die Seite umschlagen wollte, strahlt der Roman Hoffnung aus, lebt Liebe und Aufopferung, gibt Mut und zeigt Menschlichkeit. Die Zerrissenheit eines Landes verkörpert in den Schicksalen einer Familie – eine so wundervolle, wertvolle Familiensaga! Lesenswert!!!

„Unser Leben war kurz und zerbrechlich. Zeit und Krankheit verzehrten uns wie die Flammen das Holz. Doch es war nicht wichtig, wie kurz oder lange wir lebten. Was zählte, war, wie viel Licht wir denen schenken konnten, die wir liebten, und wie viele Menschen wir mit unserem Mitgefühl berührten.“ Huʾoʾng

 

Nguyễn Phan Quế Mai

Der Gesang der Berge. Roman

Aus dem Englischen von Claudia Feldmann

Insel Verlag, 2021, 429 Seiten

ISBN:‎ 978-3458179405

— selbst erworben —