Gina Schad „Nach einem Traum“

Gina Schad „Nach einem Traum“

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Durch das Internet, speziell die sozialen Medien ist es einfacher, mit anderen in Kontakt zu bleiben und an deren Leben teilzuhaben. Leute treffen, Freundschaften pflegen, informiert bleiben. Vorteile, die gerade die sozialen Netzwerke mitbringen. Für Gina Schads Hauptfigur Marie in „Nach einem Traum“ wird jedoch genau diese ständige Präsenz und Erinnerung zum Verhängnis.

„Simon erscheint ihr wie ein Geschenk unter dem Weihnachtsbaum, bei dem man später feststellt, dass die Geschenkbox leer ist.“

Worum geht es?

Marie hat sich in Simon verliebt, und Simon sich in Marie. Aber Simon ist verheiratet und versucht, der körperlichen Anziehung zu widerstehen – dennoch finden sie eine Möglichkeit, sich einander nahe zu fühlen: im digitalen Raum.

Die beiden schreiben sich intensive Nachrichten. Mit der Zeit steigert sich Maries Sehnsucht nach Simon, nach Intimität, nach Kontrolle zu einem fieberhaften Bedürfnis. Immer tiefer taucht sie in den sozialen Medien in sein Leben ein und verliert dabei ihr eigenes aus dem Blick. Ihre Karriere als Cellistin und ihre Freundschaften treten hinter dem Bedürfnis zurück, nach versteckten Botschaften von Simon in seinen Stories und Posts zu suchen. Auch der Versuch, eine Beziehung mit dem musikbegeisterten Philipp einzugehen, scheitert.

Als Simon den Kontakt abbricht, fällt es Marie noch schwerer, loszulassen. Bald ist sie nicht mehr nur regelmäßig auf Simons Profil unterwegs, sondern auch auf denen seiner Frau und seiner Kinder. Marie bemerkt die Grenzüberschreitung und versucht, sich abzulenken, doch es ist wie verhext: Jedes Mal, wenn sie gerade etwas Distanz zu Simon bekommt, läuft sie ihm zufällig über den Weg. Oder sind ihre Begegnungen gar nicht so zufällig? (Verlagstext)

Wie fand ich es?

Eine neue Beziehung gefüllt mit Gesprächen, flüchtigen Berührungen, Chat-Mitteilungen, Kribbeln im Bauch, Sprachlosigkeit vor Nervosität, Vorfreude aufs nächste Mal – für Marie könnte es eigentlich nicht besser laufen, wäre da nicht diese eine Sache: Simon ist verheiratet, hat zwei Mädchen, einen Hund, ein Haus. Er führt eigentlich ein perfektes Leben, wenn er nicht manchmal vor der Verantwortung fliehen, aus dem familiären Korsett ausbrechen möchte. Marie ist wahrscheinlich gerade deswegen so anziehend für ihn, weil sie das lebt, was er nicht kann: Sie ist jung, frei, ungebunden, hat eine unbekannte Zukunft vor sich.

Wir tauchen ein in verliebte Chatgespräche, erleben heimliche Blicke, lange Spaziergänge. Schad betont aber auch Simons Anspannung in der Öffentlichkeit, seine gehetzten Augen, sein Blick über die Schulter, seine Angst vor Begegnungen mit Bekannten. Die Chatgespräche sind einfacher, auch die Kommunikation über ihr Profile mit Likes und Bildern in Social Media verläuft problemlos. Wir erkennen ihre Zuneigung füreinander.

„Sein Like ist eben nicht irgendein Like. Es ist ein Lebenszeichen, es ist Kontakt, ein ‚Ich bin immer noch hier‘. Wie ein zarter Kuss. Eine kurze Befriedigung.“

Für Marie könnte es ewig so weitergehen, wäre da nicht der Wunsch auf mehr, auf eine Zukunft mit ihm. Sie sieht sich an seiner Seite, in seinem Haus, beim Gassigehen mit seinem Hund, beim Spielen mit seinen Töchtern. Maries Zwiespalt tritt hervor, ihr Verstand und ihr Herz gehen verschiedene Wege. Auf der einen Seite will sie den ganzen Simon haben, auf der anderen Seite ist sie aber auch zufrieden mit dem, was er ihr geben kann. Eine Trennung ist irgendwann für beide die einzige Lösung, doch kann sie den Online-Simon nicht loslassen. Sie verfolgt sein Profil, nimmt so an seinem Leben und das seiner Familie teil. Träumt sich zu ihm.

„Sie will diesen Menschen. Noch nie wollte sie etwas so sehr. […] Und auch, obwohl er ihr gerade gesagt hat, dass er mit seiner Frau alt werden will. Noch nie hatte ihr Kopf so wenig zu sagen, und noch nie hatte sie so sehr das Gefühl, es gehe um Leben und Tod, wie in diesem Moment […].“

Als Lesende spüren wie Maries Verzweiflung, ihren Willen, Simon zu vergessen, aber ihr Unvermögen, ihn gänzlich loszulassen. Kummer und Sehnsucht lassen sie zu einer Getriebenen werden. Die zufälligen Begegnungen, die Online-Benachrichtigungen und Profilaktivitäten werfen sie immer wieder zurück.

„Wann hat sie nur angefangen, so klein zu träumen?“

Schad versteht es, von Anfang an ein Unbehagen zu vermitteln und diesen bedrückenden Grundton über jede weitere Buchseite aufzubauen. Neben Liebe liegen so immer auch Nervosität, Angst und ein schlechtes Gewissen in der Luft. Mit musikalischen Bildern erleben wir auch, wie Marie aus dem Takt gerät und ihren Lebensrhythmus verliert. Gerade bei den Chats, die oftmals einseitig verlaufen, wird deutlich, dass die Beziehung ein schlechtes Ende nehmen wird, dass entweder Marie, Simon oder seine Frau auf ein Unglück zusteuert. Meine Theorien waren ziemlich bunt. Der tatsächliche Ausgang erschien mir dann zwar irgendwie eher grau, war dafür aber sanfter und gab mir und Marie einen Aha-Effekt.

„Kein Happy End ist eben manchmal doch ein Happy End.“

Fazit

Eine packende Erzählung über Abstand und Nähe, Wunsch und Realität und das Erwachen nach einem (Alb-)Traum. Tolle Lektüre, durch die man das eigene Social-Media-Verhalten überdenkt.

Vielen Dank an den Goya Verlag für das Leseexemplar und das Buchpaket.

Gina Schad „Nach einem Traum“

Goya Verlag, 2023, 226 Seiten

ISBN: 978-3-8337-4612-3