Gudrun Skretting „Vilma zählt die Liebe rückwärts“

Gudrun Skretting „Vilma zählt die Liebe rückwärts“

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Eine so liebevolle Geschichte habe ich schon lange nicht mehr gelesen! Vilma ist eine bezaubernde, schrullige und verkopfte Protagonistin, die in ihrem Leben feststeckt, ohne es selbst zu wissen. Tragische Ereignisse in ihrer Kindheit prägen sie bis heute, lassen sie erstarren und ihren Alltag überschatten. Liebe und Freude haben kaum Platz. Als dann aber zwei Menschen vor ihrer Tür stehen, ihr Briefe ihres kürzlich verstorbenen, aber bisher unbekannten Vaters überreichen, bekommt ihr Leben neuen Schwung. Und ihr Klavierschüler Amdi zeigt ihr, wozu Freundschaft fähig ist und was sie bewirken kann.

„Und was mir ganz und gar nicht ähnlich sah: Ich verspürte nicht den geringsten Wunsch, nach Hause zu gehen. Wünschte mich nicht woandershin.“

Worum geht es?

Wussten Sie, dass Bananen minimal radioaktiv sind? Der Verzehr ist riskant. Das nennt man Micromort. Noch riskanter ist wahrscheinlich nur, sich zu verlieben.

Vilma Veierød, 35, hat sich auf ihre eigene, um nicht zu sagen skurrile Weise im Leben eingerichtet. Sie lebt allein in einem großen Haus in Oslo, gibt Klavierstunden und bemüht sich, radioaktive Bananen und andere lebenszeitverkürzende Genüsse weiträumig zu umgehen.

Eines Morgens soll sich ihr Leben grundlegend ändern. Der Pfarrer überbringt Vilma ein Bündel Briefe von ihrem verstorbenen Vater, den sie nie gekannt hat. Und während Vilma gebannt in die Vergangenheit ihrer Eltern eintaucht, nähert sie sich selbst jenem Mysterium, das sie bislang gemieden hat: der Liebe. (Verlagstext)

Wie fand ich es?

Vilma erscheint wie eine lebensfremde Person, die sich zwar nicht von der Welt abgewandt hat, aber in einem anderen Universum lebt. Sie macht sich viele Gedanken um ihre Gesundheit, um Mikromort, kleine Sünden, die das eigene Sterberisiko erhöhen, weswegen sie auch keine Bananen und Süßes isst. Zuletzt hat sie sich mit emotionaler Gesundheit befasst und dass es mehr braucht für ein langes Leben als eine gesunde Lebensweise und soziale Kontakte für das innere Wohlbefinden ebenso wichtig sind. Daher knüpft sie für ihr Seelenheil Kontakt zum Pfarrer und lässt sich auf Amdi und Robert ein. Als Leser*in ist schnell zu erkennen, wie gut ihr doch die Beziehungen, die sozialen Interaktionen tun.

„Trotzdem lachte ich weiter, bis der Bus blinkend davonfuhr und Robert mir aus dem Fenster zuwinkte. Mir, der Tochter seines toten Klienten, der prustenden Klavierlehrerin im Schnee. Der Einsiedlerin, bei der sich womöglich gerade ein paar Schrauben gelockert hatten.“

Die Briefe ihres Vaters, von denen sie wie bei einem Adventskalender nur jeden Tag einen öffnet, erwecken etwas in ihr und bringen sie ihrer früh verstorbenen Mutter, ihrem verschollenen Vater näher. Sie erfährt von ihrer innigen Liebe und kann sich endlich ein Bild von ihnen als frischverliebte, junge Menschen machen. Durch sie kann sie auch die Musik wieder neu erleben. Die Briefe sind ein wunderbares Element, die von Vilmas Großtante Ruth verschwiegene Vergangenheit wiederzubeleben und zurückzublicken. Mich hat besonders der letzte Teil des Romans sehr berührt. Alles verbindet sich, und es zeigt sich, dass kleine persönliche Wunder geschehen können. Die unsichtbare, unwirkliche Vilma wird gesehen, von ihren Freunden, von ihren Kollegen und von Robert.

„Nicht, dass ich es für etwas anderes als einen Zufall hielt. Aber ab und zu ist auch ein Zufall ein kleines Wunder.“

Skretting erzählt Vilmas Geschichte so süß und herzhaft, dass das Tragische und Traurige weniger schmerzt. Denn im Grunde ist es ein Roman über das Verlassenwerden dreier Generationen. Humor und Situationskomik trösten aber über die Umstände. Gerade Vilmas Gespräche mit ihrer Kollegin oder dem Pfarrer sind ungewollt komisch, da sie die Menschen oft missversteht. Ich habe mehrfach wirklich herzhaft lachen müssen. Beispielsweise wie sie sich sorgen macht, dass die Tics von Robert, Auswirkungen seines Tourettesyndroms, die Freunde verärgern könnten, weswegen sie Roberts Kraftausdrücke zeitgleich mit anderen willkürlichen Begriffen übertönt. Auch die Situationen mit dem Pfarrer sind einfach genial komisch und schicksalhaft herzlich. Ich sage nur: warmer Händedruck, Verliebtsein, Aubergine, Thujabusch.

„Ein Leben, in dem wir voneinander gewusst hätten, wäre ein vollkommen anderes gewesen – wir wären nicht da, wo wir jetzt sind. Vielleicht hättest du Menschen, die Dir sehr am Herzen liegen, nie getroffen?“

Vilhelm Mozart Sandvik (Vilmas Vater)

Fazit

Ich bin richtig happy, dass ich mein Bücherjahr 2023 mit diesem Goldschatz beendet habe! Ein wunderschöner Roman, in dem sehr viel steckt: sehr viel Gefühl, sehr viel Humor, sehr viel persönliches Schicksal, sehr viel Liebe. Dieser Roman will gelesen werden!

Lieben Dank an meinen Mann für dieses tolle Buchgeschenk!

Gudrun Skretting „Vilma zählt die Liebe rückwärts“. Roman

Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger und Stefan Pluschkat

DTV, 2022, 400 Seiten

ISBN: 978-3-423-29024-1