Ingebjørg Berg Holm „Wütende Bärin“

Ingebjørg Berg Holm „Wütende Bärin“

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Ich gebe euch noch ein paar letzte warme Sonnenstrahlen mit auf den Weg, denn für diese Lektüre müsst ihr euch warme Gedanken machen. Nicht allein deswegen, weil die Handlung in Bergen und Svalbard (Spitzbergen) spielt, sondern auch aufgrund der von Misstrauen geprägten Beziehung zwischen den drei Hauptfiguren Nina, Njål und Sol und den mit diesen Figuren verbundenen elementaren Themen Urinstinkt, Schutz und Bedrohung, Vertrauen und Argwohn, Angst und Sicherheit.

Worum geht es?

Ein Roman von absoluter Modernität. Der Ton einer neuen Stimme aus Norwegen. In der Übersetzung von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann. Dreierlei Ich-Stimmen sind zu lesen: die der jungen Klimaforscherin Nina und ihres Mentors Njål, die gemeinsam ein Kind haben, Lotta. Die dritte Stimme gehört Sol, die vor Nina mit Njål zusammen war und die gern ein Kind mit ihm gehabt hätte. Trotz des gemeinsamen Kindes leben Nina und Njål nicht zusammen. Irgendetwas wurde Lotta angetan. Wie ein kalter Nebel zieht sich die Ungewissheit über das Geschehen durch das Buch. Nina, Njål und ihr Kind werden nach Svalbard, Spitzbergen, reisen. Um noch einmal zu versuchen zusammenzukommen? Oder gibt es ganz andere Gründe?

In der Dunkelheit der Polarnacht drängt Njål auf ein Wochenende in einer entlegenen Hütte. Ein Retreat in der absoluten Dunkelheit, dort, wo die Eisbären auf Futtersuche sind? Was wird in der Hütte am gefrorenen Meer geschehen? (Inhaltsangabe des Verlags)

Wie fand ich es?

Abwechselnd übernehmen wir die Perspektive von Nina, Njål und Sol und erleben in Monate unterteilt das für alle entscheidende Jahr ihres Lebens. Für Nina geht es um Babyblues, Sorgerecht und Vereinbarkeit von Kind und Karriere, Njål will seinen Ansprüchen als Mann, Vater und Forscher gerecht werden und Sol wünscht sich nichts weiter als Mutter zu sein. Die Ereignisse vor allem der Kampf um das Sorgerecht und um die Forscherstelle in Svalbard werden durch die drei Blickwinkel mehrfach beleuchtet, wir nähern uns den tatsächlichen Geschehnissen an, verhaften jedoch in der subjektiven Welt der Figuren. Interessant ist vor allem deren persönliche Bewertung der Ereignisse aus weiblicher und männlicher Sicht.

Nina wollte nie Mutter sein, spürt aber während der Schwangerschaft Mutterinstinkte aufkommen, doch postnatale Depression und Zwangsvorstellungen beherrschen sie anschließend. Hinzu kommen körperliche Veränderungen nach der Geburt, durch die sie sich fremd und gefühllos in ihrem Körper fühlt. Verlangen und Lust treten in den Hintergrund. Dies führt zu Distanz zu sich selbst und Lotta.

„Ich war so nass, dass ich glaubte, auf mir müsse Moos wachsen und ich würde Pilze bekommen. Trübe Flocken in der Unterhose, rote Flecken auf der Brust, weißer Belag im Mund meines Kindes. Sie bekam Pilze auf der Zunge, weil sie an mir saugte.“

Eine Besonderheit des Romans sind die intensiven, unverschönten Beschreibungen der Schattenseiten der Geburt und der Säuglingszeit mit den Veränderungen des weiblichen Körpers. Auch andere Szenen, in denen beim Lesen Ekel aufkommt, werden detailliert aufgeführt. Hierdurch unterstreicht Berg Holm das Thema des Romans und das Setting, das Ausgeliefertsein der Natur – Leben und Sterben.

Neben unerfüllte und ungewollte Mutterschaft ist das Thema Angst und Gefahr hervorgerufen durch Männer sehr präsent. Da reicht ein weiterer Schritt, ein scharfer Blick, ein Wort, um eine Situation neu zu bewerten und die eigene Sicherheit zu verlieren. Unterschwellig werden mögliche Gefahren und Auswege angedeutet. Njål nutzt seine körperliche Überlegenheit (unbewusst?) für sich aus. So hat er mit einem heftigen Schlag das starke Selbstbewusstsein seiner kämpferisch ihm überlegenen Sparringspartnerin Guro niedergewalzt.

„Als er [Njål] auf mich zukam, hatte ich Angst, so groß und heftig, aber er blieb dicht vor mir stehen. Für einen Moment starrte er mir ins Gesicht, so nah, ich hätte ihn in den Schritt treten, hätte Anlauf nehmen und ihn mit einem Stoß mit meinem Kopf zu Boden werfen können, ich hätte das geschafft, aber er legte die Arme um mich, zog mich an sich und hielt mich fest.“

Auch wenn zum Ende hin Nina ins Zentrum der Geschichte rückt, ist es doch vor allem Njål, der sich mir beim Lesen besonders eingeprägt hat. Schnauben und Aufstöhnen vor Unglauben, Kopfschütteln vor Entsetzen waren meine Reaktionen auf ihn.

„Als ich Nina zum ersten Mal sah, spürte ich einen Ruck in mir. Ich stellte mir vor, wie es wäre, sie zu vögeln, wie ich das immer mache, wenn ich auf eine Frau im fruchtbaren Alter treffe. Wie Männer es eben tun. Das ist überhaupt nicht so schlimm, wie viele meinen, es ist keine Herabsetzung. Es ist bloß der Affenteil des Gehirns, der ein wenig an ihrem Hintern schnuppert. Bildlich gesprochen. Ich bin in der Lage, sowohl daran als auch gleichzeitig rational und respektvoll zu denken.“

Eine Frau, ein Kind und eine Hütte – das ist eigentlich Njåls Vorstellung eines glücklichen Lebens. Doch weder mit seiner ersten Liebe Sol noch mit der „Liebesgöttin“ Nina will es so ganz funktionieren. Seine Vorstellungen vom Leben und die Realität klaffen auseinander, auch will er nur das sehen, was ihm nutzt. Mit Widersprüchen und anderen Ansichten hadert er. Hinzu kommt sein zwiegespaltenes männliches Selbstbild: moderner Mann, der den Frauen nicht nur Respekt, sondern auch Verständnis entgegenbringt, offen kommuniziert und seine Emotionen zeigt, vs. Wikinger, der das ursprüngliche raue, freie Leben in der Natur genießt, in der Instinkt, Mut und Beschützergeist lebenswichtig sind. Durch seinen Vater, ein Naturmensch, der sein Essen selbst erlegt, wird ihm die wahre Männlichkeit vorgelebt. Ob er jedoch an dieses Bild heranreichen kann, bezweifelt nicht nur seine Schwester Kjerstin, die in die väterlichen Fußstapfen getreten ist und den elterlichen Hof entgegen der Tradition übernommen hat, sondern auch andere Menschen in seiner Umgebung – umso verbissener versucht Njål ihnen das Gegenteil zu beweisen.

„‚Svalbad‘, sagt sie langsam, ‚Hast du echt Nerven dafür? Du weißt doch, dass es da Bären gibt?‘“

So führt sein Weg in die wilde Natur, in eine einsame Hütte, wo sich Nina und Lotta gänzlich auf ihn verlassen müssen. Er will vor allem seine Tochter beschützen, die Frage ist nur, wie weit er dafür gehen wird. Diese Frage stellt sich auch Nina. Beide erleben, dass die Vorstellung einer heilen Familienwelt Wunschtraum bleibt. Gegenseitiges Vertrauen, Liebe und Zärtlichkeit sind erkaltet. Die raue Wildnis spiegelt sich in ihnen.

Fazit

Ich habe bei der Lektüre teilweise an „Die Wut, die bleibt“[1] und „Mama“[2] denken müssen, in denen die Kluft zwischen den Geschlechtern und die Mutterrolle ungeschönt beschrieben werden. „Wütende Bärin“ geht einen ähnlichen Weg, konzentriert sich jedoch verstärkt auf Urinstinkte, Leben und Tod, auf Schutz und Beschützen. Ingebjørg Berg Holm erzählt sehr eindringlich, brutal ehrlich, ihre Sprache ist eisig und klar. Faszinierend und spannend in ihrem Roman fand ich vor allem, wie sich ein vordergründig heiles Familienmodell zu einer verhängnisvollen Katastrophe wandelt.

–> Nichts für Warmduscher*innen.

Vielen Dank an buch contact und KJM Buchverlag für das Leseexemplar.

Ingebjørg Berg Holm

Wütende Bärin. Roman

Aus dem Norwegischen übersetzt von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann

KJM Buchverlag, 2022, 360 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag

ISBN: 978-3-96194-182-7


[1] „Die Wut, die bleibt“, Mareike Fallwickl, Rowohlt Buchverlag, 2022.

[2] „Mama“, Jessica Lind, Kremayr & Scheriau, 2021.