James Hynes „Ich, Sperling“

James Hynes „Ich, Sperling“

with Keine Kommentare

Was haben ein Topf und ein Sklave gemeinsam? Sie sind – zumindest nach Ansicht der herrschenden Klasse, der freien Menschen im 4. Jh. n. Chr. im spanischen Carthago Nova – beide Gegenstände, brauchen weder Namen noch Identität.

„Du und ich, […] wir sind keine Menschen. Wir sind Dinge, wie dieser Topf. Wenn dieser Topf kaputt geht, kann Dominus einen neuen besorgen. Wenn er dich nicht mehr braucht, kann er sich einen anderen Jungen holen […] und der neue Junge wird Pusus [Junge] heißen. Diese Bezeichnungen gehören uns nicht. Uns gehört nichts. Wir gehören zur Bezeichnung.“

James Hynes nimmt uns in „Ich, Sperling“ mit in längst vergangene Zeiten. Er lässt das spätrömische Reich auferstehen und vermittelt uns ein detailliertes Bild der antiken Welt, das sich in freie und unfreie Menschen aufteilt, ohne den Staub vieler Jahrhunderte. Das Besondere an diesem Roman ist allerdings, dass wir nicht die Mächtigen, Kaiser, Senatoren oder Gelehrten begleiten, sondern dass Hynes den Menschen, die verstummt und unsichtbar sind, eine Stimme verleiht. Und die Hauptstimme dieses Romans gehört dem Sklavenjungen Pusus, der als Waise in einem Bordell aufwächst und nun Jahre später rückblickend uns seine Geschichte erzählt.

Worum geht es?

Ein alter Mann blickt zurück auf seine oft unmenschliche Kindheit: Als namenloser Waise wächst er in einem Bordell inmitten der sogenannten „Wölfinnen“ im spanischen Carthago Nova im 4. Jahrhundert n. Chr. auf. Eine von ihnen, Euterpe, wird seine Ziehmutter: „Sperling“ nennt sie ihn liebevoll. Sperling weiß nicht viel von der Welt: Anfangs hilft er Euterpes geheimer Geliebten in der Küche, später schuftet er in der Taverne, bis er schließlich in das ominöse Obergeschoss geführt wird, wo die Prostituierten ihre Betten haben. Ein furchtbares Schicksal erwartet ihn dort. Doch wie ein kleiner Sperling entfliegt er in seiner Vorstellung der brutalen Realität immer wieder und vermag es, mit seinem Lied auch anderen Hoffnung zu geben.

Mit großer Vorstellungskraft und Einfühlungsvermögen lässt James Hynes in „Ich, Sperling“ das spätrömische Reich in den Geschichten der Deklassierten und Ausgenutzten auferstehen, dort, wo Gewalt und aufrichtige Liebe in einer dem Untergang geweihten Welt direkt nebeneinander existieren. (Verlagstext)

Wie fand ich es?

Ohne Wissen über seine Herkunft, seine Familie, über sich selbst wächst Pusus, auch Maus oder Antinoos genannt, zunächst in der Küche des Bordells Helikon bei der Köchin Focaria auf. Seine Vormittage verbringt er zunächst mit den Prostituierten, die als „Wölfinnen“ bezeichnet werden, im Garten, bekommt von Euterpe, die einer Mutter am nächsten kommt, Geschichten, Parabeln erzählt, um ihm die Welt zu erklären. Schrittweise erweitert sich seine Welt, wird größer wie auch seine Aufgaben als Küchen- und Botenjunge. Dann wird in der Taverne als Kellner eingesetzt und schließlich bezieht er neben den anderen Wölfinnen eine Zelle im Obergeschoss der Taverne. Dieser Übergang von einem unschuldigen, naiven Jungen zu einem, der nunmehr unmittelbar mit Leid, Schmerz, Demütigung und Gewalt konfrontiert wird, hat mir das Herz schwer gemacht. Hynes lässt Pusus diese Zeit, die Vergewaltigung durch seinen Aufseher und seine Arbeit danach sehr klar und direkt schildern, aber immer mit dem Wissen, dass es bessere Zeiten geben wird. Hoffnung, ob auf kleine Verbesserungen oder größere Umwälzungen schwingen stets mit – nicht zuletzt durch die Erzählsituation. Trotzdem kann es gerade für sensible Lesende beklemmend sein.

„Du wirst nie erfahren, woher du kommst. […] Dein Leben wird kurz sein und es wird ein schweres Leben sein. Und je eher du das akzeptierst, desto besser wird es dir ergehen.“

Das Erschreckende, das in diesem Roman mitschwingt, ist der Kontrast zwischen den edlen, gebildeten, kultivierten Menschen bzw. Männern und ihrem Verhalten in der Taverne und den Prostituierten sowie Sklaven gegenüber. Pusus beobachtet die Männer zunächst mit unschuldigen, dann mit resignierten Augen, wie sie von freundlichen, anständigen Männern zu Ungeheuern werden. Wie sie ihren Anstand ablegen, unberechenbar und gewalttätig sind und sich nehmen, was sie wollen, wie ein Tier seine Beute.

„Dann hat mich Audo entzweigeteilt; ich fliege wie ein Vogel auf, weg von meinem Körper, und lande im Fenster über dem Bett. Unter mir sehe ich einen Jungen, der unter einem massigen, schwitzenden, rotgesichtigen Mann eingeklemmt ist. […] Mit raschen Flügelschlägen flattere ich aus dem Fenster ins Freie und schwebe über dem Garten. […] Und dort oben, in der tönenden Stille der Luft, in einem endlosen Moment, der ewig scheint und es doch nicht ist, werde ich zum ersten Mal zu meinem anderen Ich, meinem heimlichen Namen, meinem wahren Namen. Ich werde Sperling.“

In einigen Momenten schimmert traurig hindurch, wie jung Pusus noch sein muss. Man mag es gerne verdrängen, gerade weil Hynes uns kein Alter nennt und Pusus auch sein bisher kurzes Leben nichts anderes gemacht hat, als hart zu arbeiten und eben auch als Wölfin in gewissen Dinge eine Reife erlangt hat. Aber dann agiert er wieder wie ein kleiner, unwissender Junge, der eigentlich noch zu wenig von der Welt kennt und umso schmerzlicher ist es dann zu lesen, was ihm weiter widerfährt, wie die Menschen ihn für ihre Zwecke benutzen.

„Ich bin Sperling und der Sperling ist ich – zusammen sind wir in keiner Sache besonders gut, aber gerade gut genug in allem, um zu überleben. […] Wenn der Sperling sowohl eingesperrt als auch frei sein kann, dann kann ich das vielleicht auch.“

Fazit

Trotz all dieser Traurigkeit und widerfahrenen Ungerechtigkeit besteht von Anfang an die Gewissheit – zumindest in meinen Augen –, dass sich Pusus von diesen Ketten befreit und in ein neues, selbstbestimmtes Leben aufbricht. Dass er seine Flügel ausbreitet und in die Freiheit fliegt.

Gewaltig in vielerlei Hinsicht: Sprache, Ausdruck, Bild, Thema, Figuren und ihre Menschlichkeit. Klare Leseempfehlung!

Vielen Dank an den dtv Verlag für das Leseexemplar.

James Hynes „Ich, Sperling“. Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Ute Leibmann

dtv, 2023, 592 Seiten

ISBN: 978-3-423-28355-7