Jenny Lecoat »Die Übersetzerin«

Jenny Lecoat »Die Übersetzerin«

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Perplex. Enttäuscht. Verwirrt. Verärgert.

Das alles bin ich nach dem Hörbuch von Jenny Lecoats Roman »Die Übersetzerin«. Ich bin mir unsicher, ob es nur an dem Format an sich lag oder ob ihr Buch tatsächlich bei mir floppte. Denn viele sind von dem Werk angetan, finden die Geschichte berührend und spannend. Doch nicht immer stimmt das eigene Leseerlebnis mit denen anderer überein. Belletristik ist subjektiv, und oft spielen auch äußere Umstände eine Rolle. Ging es euch auch schon mal so?

In meiner Hörbuchmediathek von Deezer hat mich das wirklich geschmackvolle Titelbild schon eine geraume Zeit angelächelt. Perfekt, ein guter Start. Aber erst gegen Ende des Hörbuchs wurde mir klar: Das Hörbuch ist eine gekürzte Lesung! Normalerweise vermeide ich gekürzte Fassungen, denn das kommt einem Eingriff in das Werk des Autors bzw. der Autorin gleich. Sie haben ja jedes einzelne Wort, jeden Satz, Abschnitt und Kapitel explizit so gedacht und angeordnet. Eine Kürzung zerstört den Aufbau der Handlung, verhindert die Figurenentwicklung, schafft Abstand. Und ja, das alles kann ich bestätigen.

Worum geht es?

Jersey, 1940. Als Hedy eine Stelle als Übersetzerin für die deutschen Besatzer der Kanalinsel antritt, weiß niemand, dass die junge Frau Jüdin ist. Während sie durch heimliche Akte des Widerstands versucht, gegen die Nazis aufzubegehren, verliebt sie sich ausgerechnet in den deutschen Wehrmachtssoldaten Kurt, der ihre Gefühle erwidert. Doch Hedys Identität bleibt nicht lange verborgen. Gemeinsam mit Kurt und einer guten Freundin schmiedet Hedy einen mutigen Plan, um ihren Verfolgern zu entkommen … (Klappentext des Verlags)

Wie fand ich es?

Die Geschichte soll auf einer wahren Begebenheit beruhen. Das finde ich an sich spannend, doch die Hintergründe der Zeit, das, was die Geschichte so tragisch macht, spielt hier nur eine kleine Rolle. Das Hörbuch setzt ein, als die junge Jüdin Hedy Bercu 1940 bereits auf der britischen Kanalinsel Jersey gelandet und verankert ist. Wie sie von ihrer Heimat geflohen, was ihr dabei widerfahren ist, erfährt der Hörende nicht. Dies wäre jedoch wichtig, um nachzuvollziehen, warum Hedy im Vergleich zu den anderen Insulanern so verängstigt auf die sich nähernden Deutschen reagiert (auch wenn man es weiß, gehört es doch zur Erzählung dazu).

Auch während der deutschen Besatzungszeit wird zu wenig Gewicht auf das Er- und Überleben der jüdischen und nicht jüdischen Bewohner*innen gelegt. Womit müssen die Jerseyaner*innen kämpfen, was erdulden sie und wogegen gehen sie an? Dass Hedy durch ihre Arbeit als Übersetzerin für die Deutschen Vorteile erhält, z. B. Verpflegung, wird kaum thematisiert. Wie reagieren die anderen hungernden Insulaner*innen darauf, haben sie Mitgefühl oder sind sie eher missgünstig? Hedy setzt sich zwar für ihre Leute ein, stiehlt Benzinmarken und gibt sie an den Untergrund weiter, doch was im Geheimen passiert, was die Bewegung bewerkstelligt, erfährt man als Hörender auch nicht. So viele Fragen bleiben unbeantwortet!

Im Vordergrund steht allein die Liebesbeziehung von Hedy und Kurt, die Umstände bilden nur den Rahmen für die Erzählung. Deutlich wird dies daran, dass der erste Deutsche, den sie sozusagen trifft, der freundliche und hilfsbereite Kurt ist, in den sie sich unmittelbar verliebt. Wie sich die Beziehung entwickelt, welche Hürden sie nehmen muss, kann man sich ohne Probleme ausmalen. Überraschungen sind in Lecoats Roman keine zu finden. Eine allzu bekannte Liebesgeschichte entwickelt sich ohne die eigentlichen Spannungen zwischen Besatzern und Besetzten (so gut wie keine).

Welche Figur mich aber überrascht hat, ist die naive und hoffnungsfrohe Insulanerin Dorothea, die sich Hals über Kopf verliebt und einen deutschen Soldaten heiratet. Aus diesem Grund verstößt ihre Familie sie und wird von anderen Einheimischen gemieden. Nachdem ihr Mann eingezogen wurde, sie nun auf sich alleingestellt ist, erwachen ihre Stärke und ihr Mut. Beeindruckend! Sie entpuppt sich als Überlebenskünstlerin, die mutig und kreativ gegen alle Widerstände kämpft. Die beste Szene im ganzen Roman ist die, wie Dorothea ein Schwein anschleppt (aber mehr wird nicht verraten). Leider bleibt die Figur sehr vage, und am Ende findet sie ihr Glück natürlich wieder in den Armen eines Mannes. Wie kann es anders sein?

Fazit

Insgesamt fehlt dem Roman eine gewisse Tiefe, auch die Dramatik bleibt meiner Meinung nach aus. Somit ist Lecoats »Die Übersetzerin« letztendlich nur eine klassische vorhersehbare Liebesgeschichte. Ich habe beim Hören immer wieder an einen thematisch ähnlichen Roman denken müssen, an Alex Capus‘ »Léon und Louise«, der mich richtig begeistert hat. Capus kreiert eine frische und bewegende Geschichte um Léon und Louise, die durch die Weltkriege getrennt werden und trotz Pflichten und familiärer Verantwortung am Ende doch irgendwie wieder zusammenfinden. Die wahre Liebe eben ohne Klischees und Schmalz.

Ich frage mich nun aber: Sind diese Kritikpunkte nur der gekürzten Hörbuchvariante geschuldet oder ist das Buch tatsächlich eher eindimensional und hat einige der aufgezeigten Schwächen? Meint ihr ich sollte dem Buch noch eine Chance geben? Flop oder Top?

 

 – Das Hörbuch stammt aus der Hörbuchmediathek von Deezer, selbst bezahlt. –

Jenny Lecoat »Die Übersetzerin«

Gelesen von Marylu Poolman

Lübbe Audio, 6:49 h, Gekürzte Lesung

 

Erschienen in Lübbe Belletristik, 2021

320 Seiten, Altersempfehlung: ab 16 Jahren (äh, warum?)

ISBN: 978 3 7857 2756 0