Jessica Lind „Mama“

Jessica Lind „Mama“

with Keine Kommentare

Das Buch hat mich etwas sprachlos zurückgelassen, hat mich überrascht und war ganz anders, als ich erwartet habe. Während des Lesens sind mir immer wieder neue Szenarien durch den Kopf gegangen, was das gerade Gelesene zu bedeuten hat. Ich habe Vermutungen, Erklärungen aufgestellt, die Jessica Lind nicht bestätigen wollte. Wichtig beim Lesen ist hier, sich von realistischen Vorstellungen zu lösen und einfach mitzugehen.

Es beginnt mit einem Roman über ein Pärchen, das eine Familie gründen will – also eine Art Beziehungsroman gefüllt mit Selbstzweifeln, Streit, Versöhnung etc. Dann kommt der einsame Wanderer ins Spiel. Er hat mich etwas abgelenkt. Doch ein Thriller oder eine Horrorgeschichte? Wenn man mal ehrlich ist, war der Gedanke der Figur von einem Axtmörder gar nicht so abwegig. Das Setting hat so wunderbar gepasst: einsame Waldhütte, düsterer Wald, tiefe Dunkelheit, keine Menschenseele weit und breit, kein Handyempfang, unheimliche Begegnungen, sich beobachtet zu fühlen… Es ist weder eine simple Beziehungsgeschichte noch ein Axtmörderkriminalfall. Das Genre ist nicht klar zu benennen: eine Mischung aus Grimms Schauermärchen mit gespenstisch, bösen Elementen wie bei einem Horror- und Psychothriller. „Mama“ ist ganz und gar kein Schubladenbuch. Und dieses Ungreifbare schlägt sich auch in der Story nieder.

Worum geht es?

Amira wünscht sich ein Kind. Als sie schwanger wird, gesellen sich Ängste und Sorgen zu ihrer Vorfreude. Wie wird sie die Mutterschaft verändern? Ein Ausflug zur abgelegenen Waldhütte ihres Partners Josef bringt nicht die ersehnte Entspannung: Rätselhafte Begegnungen häufen sich, Raum und Zeit scheinen außer Kraft und Amira weiß nicht, ob sie ihrer Wahrnehmung noch trauen kann. Was ist Traum, was Realität? Zwischen tiefer Verunsicherung und inniger Mutterliebe beginnt ein Ringen um Selbstbehauptung und Unabhängigkeit – denn der Wald scheint seine Gäste ungern wieder freizugeben.

Wie fand ich es?

Der Roman ist in vier Abschnitte unterteilt, die jeweils in der einsamen Waldhütte spielen. Im ersten Teil wird Luisa, Amiras zukünftige Tochter, auf der von Josef geliebten Waldlichtung bei Nacht unterm Sternenmeer gezeugt. Deutlich werden hier Amiras Wunsch, Mutter zu werden, ihre Zuversicht über ihre Mutteraufgaben und ihre Vorsätze, nicht nur Mutter zu sein, sondern auch ein eigenes Leben zu führen und ihre Partnerschaft weiterzupflegen.

Als das Kind noch eine Möglichkeit war, war da so eine unbändige Liebe in ihr.

Beim zweiten Besuch der Waldhütte feiert das Paar ihren Babymoon. Amira steht kurz vor der Geburt. Etwas hat sich jedoch verändert. Sie leidet unter der Schwangerschaft – körperlich wie psychisch. Lind gibt hier keinen romantisch-verklärten Blick auf die Schwangerschaft, nimmt stattdessen den Leser*innen die rosarote Brille von der Nase. „Die Entwicklung eines Fötus ist weitaus kompliziert als das Wuchern einer Krebszelle.“ (56) Amiras Erwartungen werden verkehrt. Ein böses Omen bzw. einen schlechten Beigeschmack hinterlässt die Szene mit der Hündin bei mir. Darin zeichnet sich Amiras Hilflosigkeit bzw. Unverständnis, eine Mutter zu sein, ab. Ihre Missdeutung der Situation hat fatale Folgen, die sie in den nächsten Abschnitten weiter begleiten und düster über sie schweben. Im dritten und vierten Teil werden die ambivalenten Seiten der Mutterschaft betont.

„Sie erinnert sich an das Gefühl… Die Sehnsucht in ihr. Die Vorfreude. Jetzt spürt sie nur diese dumpfe Leere… Es breitet sich aus, lässt kaum noch Platz für Amira, die immer geglaubt hat, dass sie sich genau das wünscht.“  

 

 

 

 
Je weiter das Buch voranschreitet, desto tiefer tauchen wir in die Gedankenwelt von Amira ab. Amiras Ängste, keine gute Mutter zu sein, nehmen Gestalt an, entwickeln sich, werden lebendiger. Träume werden zu Wachträumen, zu Wahnvorstellungen, zu Halluzinationen. Als Leser*in schauen wir hilflos zu, sind beklommen, können nichts machen. Meine Erklärungen für das immer abstrusere Geschehen waren postnatale Depression, beginnender Alzheimer, Wahn, Schizophrenie, Hirntumor oder gewalttätiger Ehemann, der sie psychisch ausspielt. Der Roman bleibt vieldeutig, offen. Lind löst das Raum- und Zeitgefüge auf, schildert übernatürliche Wahrnehmungen. Es kann alles sein oder nichts davon. „Mama“ wird nicht auserzählt, und genau das war für mich zunächst schwierig zu akzeptieren.

„Wozu ist ihr Rücken da, wenn nicht, um ihr Kind zu tragen. Wozu sind ihre Hände da, wenn nicht, um Luise die Tränen wegzuwischen. Wozu braucht sie Lippen, wenn nicht um Luises Wangen zu küssen.“

 

 

 

 

 

Lind zeigt die Veränderungen im Leben einer Frau durch die Geburt eines Kindes auf. Wunschtraum wird zum Albtraum der Mutterschaft. Was ist zu tun, um sich im Mutterdasein nicht aufzulösen, um sich nicht selbst zu verlieren? Was geschieht, wenn eine Mutter nicht mütterlich ist, wenn sie nicht kompromisslos lieben kann? Was passiert, wenn die vorausgesetzte Verbindung von Mutter zum Kind nicht vorhanden ist? Existiert noch ein zweites Ich neben der Mutterrolle? Lind tastet sich an die Antworten zu diesen Fragen heran und legt die Mutterrolle auf den Seziertisch.

„Mama“ ist rasant und dicht erzählt auf nur 192 Seiten! Unglaublich, wie viel in diesem dünnen Band steckt. Und nicht nur darin, sondern auch die Verpackung ist besonders. Der Verlag Kremayr & Scheriau hat sich sehr viel Mühe gegeben, einen besonderen haptischen Einband zu gestalten. Er fühlt sich schon fast ledrig an. Die Abbildung zeigt die Verwurzelung eines Baumstammes, die – worauf auch im Buch mehrfach verwiesen wird – organisch aussieht, und für mich Adern im Körper ähneln, unterstützt durch die rote Farbe. Bei einem Setting im Wald ist dieses Thinking outside the Box einfach klasse! Auch der Hintergrund greift die Geschichte auf: eine Spirale, ein Kreis, der an die Waldwege denken lässt, die alle zur Hütte zurückführen.

Fazit

Wer eine schöne Erzählung mit Happy End über Mutterfreuden sucht, ist hier völlig falsch. Lind hat einen fesselnden Roman über die ambivalenten Seiten der Mutterschaft kreiert. Da das Ende einen zunächst ratlos zurücklässt, keine eindeutige Auflösung anbietet, schwingt der Roman noch lange nach und lässt einen nicht mehr los. Ein Vexierspiel ohne Gleichen!

Vielen Dank an Buch Contact und an Kremayr & Scheriau für die Bereitstellung des Leseexemplars.

Mama

Jessica Lind

Kremayr & Scheriau, August 2021, 192 Seiten

ISBN: 978-3218012805