Wlada Kolosowa „Der Hausmann“

Wlada Kolosowa „Der Hausmann“

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Im bunten, quirligen, modernen Berlin sollte doch alles möglich und akzeptiert sein, so auch ein Mann, Künstler, der aber die überwiegende Haus- und Carearbeit leistet, und eine Frau, die die finanzielle Hauptlast trägt! Dass aber das tatsächlich nicht so selbstverständlich ist, müssen die beiden Hauptfiguren Tim und Thea leidlich erfahren. Sie hadern aber nicht nur mit den Reaktionen der Menschen aus ihrer Umgebung, sondern auch mit ihren eigenen Rollenvorstellungen und -erwartungen.

Worum geht es?

Bei Tim und Thea verdient sie das Geld, er macht den Haushalt. Kein Problem eigentlich, bis ihr günstiger Mietvertrag gekündigt wird und sie an den Stadtrand ziehen müssen. Das neue Haus ist voller Kippenstummel und prekärer Existenzen. Zuerst läuft es ganz gut. Tim kehrt das Treppenhaus, freundet sich mit Maxim, dem jungen Mann aus der Ostukraine an, und richtet der 80-jährigen Frau Birkenberg das Internet ein. Doch dann klingelt es an der Tür. Als Tim öffnet, schlägt ein fremder Mann ihm unvermittelt ins Gesicht. Was, zur Hölle, ist da schiefgelaufen?

»Der Hausmann« ist ein unkonventioneller Roman. Er kombiniert traditionelle und außergewöhnliche Erzählweisen und zeichnet so eine Geschichte über Gentrifizierung und Liebe, über Armut und schiefe Bahnen, exzessive Start-up-Kultur, Klimaerwärmung, veganes Hundefutter, Doktorwurst und Darknet. Es ist das Portrait eines Hauses, einer Stadt, einer Gesellschaft – einer Zeit, die sich noch wie das Jetzt anfühlt, aber schon bald verschwunden sein könnte. Das ist virtuose, lustvolle Gegenwartsliteratur. (Verlagstext)

Wie fand ich es?

„Der Hausmann“ ist sehr kompakt, streift zahlreiche Themen: Geschlechterrollen, soziale Milieus, Flucht und Integration, Voreingenommenheit, Klimawandel, junge und ältere Generation, Altersarmut und Einsamkeit im Alter. Die Protagonisten bewegen sich zwischen einer bürgerlichen und freien Lebensgestaltung, zwischen Selbstverwirklichung und Fremdbestimmung, Materialismus und Idealismus, Künstlertum und Hamsterrad. Kolosowa hat in diese vier Mieter*innen des Sozialbaus am Rande von Berlin so einiges verwoben.

Thea: und ich meine: WIR BEIDE arbeiten ja. Ich habe nur das Glück, dass der Markt bereit ist, dafür zu zahlen, was ich gerne mache. Und mit Kunst funktioniert das im Kapitalismus leider nicht so…

Anna: aber es ist trotzdem groß, dass es dich nicht juckt, wie das ganze für deine eltern aussieht oder keine ahnung, mimi und all die anderen [gemeint: Kollegium]. du den ganzen tag im office und er in jogginghosen etc. bla bla bla … Ich mein, so zu denken ist echt backwards, aber der druck bleibt ja trotzdem echt

Thea: mein Vater fragt mich immer: und, wie geht’s deinem Hausmann?

Anna: naja, strenggenommen IST tim ein hausmann

Vordergründig und titelprägend ist das Thema Umkehrung der Geschlechterrollen. Nicht gerade das aktuellste und heißeste Thema – Miranda und Steve aus „Sex and the City“ haben es in den späten 90er Jahren schon vorgemacht –, und doch trägt es zu einer gewissen Brisanz bei. Kolosowa verdeutlicht hervorragend, worin das Konfliktpotenzial steckt – und das nicht nur bezogen auf die Rollenerwartungen. Dies lässt sich auf einige weitere Bereiche, die in diesem Roman vertieft werden, ausweiten. Jede*r möchte ja offen und tolerant sein und daran festhalten, seine Mitmenschen so akzeptieren zu können, wie sie sind. Doch führt das Andere bzw. Fremde häufig nicht auch unbewusst zu einer gewissen Distanz, Voreingenommenheit und Zurückhaltung? Mitunter auch zu einer Angst vor dem Unbekannten? Auch wenn wir hier in erster Linie nur über ein abgewandeltes Familienmodell sprechen, kollidieren Erwartungen und Realität – und das nicht nur bei älteren Generationen. Kolosowa zeigt auf, dass selbst die Jungen und Innovativen in diese Denkfalle tappen.

„Du machst einfach nichts“, fuhr sie [Thea] zwischen den Schluchzern fort. „Du sitzt einfach rum und stellst Theorien auf und hältst Reden darüber, wie eine ideale Welt sein soll. Während alle anderen in diese echte, beschissene Welt rausgehen müssen und dort irgendwie funktionieren. Und glaub mir, es ist nicht gemütlich, wirklich nicht gemütlich…“

Nicht nur inhaltlich, sondern auch in der äußeren Gestaltung trifft Tradition auf Moderne. Das Besondere an diesem Roman sind die verschiedenen Erzählweisen: die traditionelle Icherzählung von Tim sowie seine Graphic Novel, das Tagebuchformat von Maxim, die Blogbeiträge von Dagmar und die Chats zwischen Thea und Anna. Über jedes einzelne Medium lernen wir die vier Hausbewohner*innen in der Sozialbausiedlung näher kennen und erfahren auch von deren Sichtweise auf die anderen.

Bei den weiteren Figuren um Tim herum hätte ich mir noch mehr Einblicke gewünscht. Gerade Thea, Maxim und Dagmar hätten noch stärker ausgebaut werden können. Nur Tim erscheint mir differenzierter. Er gibt mehr von sich preis und zeigt eine breitere Gefühlspalette, seine Ängste und Sorgen, seinen Mut, für Freunde einzustehen, seine Hoffnungen und Träume. Deutlich wird, Geld ist für Tim nicht entscheidend im Gegensatz zu allen anderen Figuren. Als wertvoll empfindet er eine heimelige Wohnung, eine harmonische Partnerschaft, eigene Familie und seine Verwirklichung als Künstler. Thea hingegen ist sprunghaft, findet Erfüllung in vielen Dingen, muss aber um die Akzeptanz ihres Vaters (sein Wunsch ist Festanstellung) kämpfen. Ihr erster Job, den ihr Vater anerkennt, führt sie fast in einen Burn-out. Die Start-up-Kultur wird hier leider völlig überspitzt dargestellt und ad absurdum geführt. Erfolg um jeden Preis. Menschen und Freundschaft verkommen zur Ressource.

„Er hat mir […] einen Vortrag gehalten, dass ich in die Gänge kommen und etwas Sinnvolles machen muss.“ Ich wollte fragen, inwiefern veganes Hundefutter sinnvoller sei als ihr alter Teilzeitjob in der NGO, die sich gegen weibliche Genitalverstümmelung einsetzte, schluckte die Bemerkung aber herunter. Thea wusste genauso gut wie ich, dass für ihren Vater ‚sinnvoll‘ bedeutete: Vollzeit plus Visitenkarte.

Zum Ende hin wird es noch einmal spannend. Einige Erzählstränge werden auserzählt und bringen Überraschungen. Mir gefällt vor allem, dass die Beziehung von Thea und Tim nicht verklärt wird. Trotzdem habe ich nicht das Gefühl, dass der Roman abgeschlossen ist. Für mich sind einige Fragen gerade zwischen Thea und Tim noch nicht ausreichend beantwortet.

Fazit: Eine kurzweilige, erfrischende Lektüre. Durch die verschiedenen Erzählebenen sticht der Roman hervor und ermöglicht einzigartige Einblicke in so unterschiedliche Charaktere.

Vielen Dank an buch contact für das Leseexemplar.

Wlada Kolosowa, Der Hausmann. Roman mit einer Graphic Novel von Raúl Soria

Leykam Verlag, 2022, 320 Seiten, Hardcover

ISBN: 978-3-7011-8253-4