Ann-Helén Laestadius „Das Leuchten der Rentiere“

Ann-Helén Laestadius „Das Leuchten der Rentiere“

with Keine Kommentare

Die Rentiere sind Dreh- und Angelpunkt des Romans, stellen die Lebensgrundlage sowie Geschichte und Kultur der Sámi dar, dem letzten indigenen Volk Europas. Rentierhaltung beruht auf einer langen Tradition, viele Sámi haben für dieses Recht gekämpft. Die Rentiere rufen jedoch nicht nur Liebe und Zuneigung bei den Sámi hervor, mit ihnen ist auch ein einsames Leben, Mühsal und Verzicht verbunden. Bei der ansässigen schwedischen Bevölkerung provozieren sie zudem Missgunst, Hass und Gewalt. Die Sámi werden ausgegrenzt, erfahren Rassismus und Benachteiligungen – eine Spaltung der Gesellschaft, die von Generation zu Generation weitergetragen wird. Elsa sieht den sinnlosen Neid und Hass auf ihr Volk, möchte es beenden und ein friedliches Zusammenleben, verlangt aber auch Gerechtigkeit für ihre Rentiere.

„Was ich hier schildere, spielt sich tatsächlich in Sápmi ab – und zwar schon seit langem. Manchmal ist die Realität schlimmer als die Fiktion. Das Buch beruht zum Teil auf tatsächlichen Ereignissen“.

Worum geht es?

Die unvergessliche Geschichte eines Sámi-Mädchens, das in einer im Verschwinden begriffenen Welt für seinen Platz im Leben kämpft. Ein Roman, so fesselnd und bezaubernd wie die schneebedeckte Weite, in der er spielt.

Die Sámi Elsa ist neun Jahre alt, als sie allein Zeugin des Mordes an ihrem Rentierkalb wird. Der Täter zwingt sie, zu schweigen. Sie kann nichts tun und fühlt sich doch schuldig, gegenüber ihrer Familie und allen, die ihr nah sind, denn wieder einmal sieht die Polizei keinerlei Anlass, in einem Verbrechen zu ermitteln. Elsas Rentier gilt schlicht als „gestohlen“. Als die Bedrohung der Sámi und ihrer Herden dramatisch zunehmen und auch Elsa selbst ins Visier des Haupttäters gerät, findet sie endlich die Kraft, sich ihrer lange unterdrückten Schuld, Angst und Wut zu stellen. Aber wird sie etwas ausrichten können gegen die Gleichgültigkeit der Behörden und die Brutalität der Täter?  (Verlagstext)

Wie fand ich es?

Die Handlung setzt 2008 ein, als die 9-jährige Elsa den Mörder ihres Rens erwischt. Die Angst vor ihm lässt sie schweigen. Ein Verdacht besteht zwar – jeder im Dorf weiß, was vor sich geht –, aber ohne Beweise oder Augenzeugen verläuft die Anzeige bei der Polizei im Sande. Dies verdeutlicht die Ohnmacht der Rentierhalter und die Zweiklassengesellschaft. Die Polizei bzw. der Staat schreibt der Wilderei und dem Rentierdiebstahl einen geringeren Stellenwert zu, Tatorte werden selten begutachtet, Beweise kaum gesichert oder analysiert. Die Polizeibehörde ist überwiegend untätig. Laestadius schildert Missgunst, Vorurteile und Unverständnis der Dorfgemeinschaft gegenüber den Sámi. Akzeptanz und Respekt füreinander fehlen. Anfeindungen in Form von Drohanrufen, Unterstellungen, Gewalt wachsen, je mehr die Sámi für ihre Rechte einstehen. Die Autorin zeichnet ein düsteres Bild, das durch die Perspektive der Wilderer weiter verdunkelt wird.

„‚Ich glaube nicht, dass ein Außenstehender verstehen kann, wie sehr uns das schmerzt. Unsere Rentiere sind unser Leben. Sie treffen uns dort, wo es am meisten wehtut, und sie machen das in voller Absicht. Und wo bleibt die Polizei? Wir sitzen hier jetzt schon seit mehreren Stunden, aber die Polizei ist nicht gekommen.‘“

Der zweite Teil spielt im Spätherbst 2018. Elsa kehrt nach ihrem Abitur auf den elterlichen Hof zurück. Sie sehnt sie nach der freien Natur und den Rentieren. Als erste Frau des Sameby verschreibt sie sich völlig der Rentierzucht, entscheidet sich für ein Leben mit Rentieren und ohne Ehemann oder Partner, da kein Sámi sie in dieser Rolle dulden würde. Das Volk der Sámi ist patriarchalisch geprägt, Rollenerwartungen sind zu erfüllen. Männer und Söhne tragen die Verantwortung für die Zucht, Frauen kümmern sich um Haus, Hof und Kinder. Elsa und ihre Freundin Minna brechen aus diesen Rollen aus, wollen Veränderungen in den konservativen Strukturen der Sámi-Gemeinschaft herbeiführen. Elsa findet ihre Stimme, handelt, beweist sich als fähige Rentierzüchterin.

„Es waren keine Söhne nötig, um die Rentierhaltung an die nächste Generation zu übergeben. Es brauchte ein Kind, das bereit und fähig war, den Rucksack zu tragen. Aber so weit waren sie noch nicht, noch standen die Söhne höher im Kurs. Elsa jedoch könnte es ihnen allen zeigen, davon war Hanna überzeugt.“

Elsas Zwiespalt schildert Laestadius eindrücklich. Selbstbewusst, mutig, erzürnt über die rohe Gewalt gegenüber den Rentieren durch die Wilderer kämpft sie dagegen an. Doch erwächst gleichzeitig tiefe Angst vor den Reaktionen ihrer Gegner. Denn sie erfährt Beleidigungen und Drohungen – nicht nur von der Dorfgemeinschaft, sondern auch seitens ihres eigenen Volks.

Im dritten Teil, Frühlingssommer 2019, kommt es zu einem Showdown. Die Spannung steigt, die Auflösung ist überraschend. Vor allem die beiden letzten Teile des Romans sind weniger von einer Familiensaga geprägt, sondern haben Ähnlichkeit mit einem packenden Krimi oder Thriller. Der erste Teil fällt im Vergleich dazu leider etwas ab. Ich finde ihn trotz der sehr gefühlvollen Einblicke zu ausschweifend. Gerade die Erzählung aus der Perspektive der 9-jährigen Elsa ist über diese Länge teilweise mühselig. Ich hätte diesen Teil zugunsten der erwachsenen Elsa gekürzt, da die Handlung erst mit der agierenden Elsa Fahrt aufnimmt.

Über allem schwebt das Thema Klimaveränderung. Regen im Februar, wechselhafte warmkalte Temperaturen im Winter, brüchiges Eis, heiße Sommer, verschwindende Weideflächen durch das neue Bergwerk. Veränderungen, die sowohl Tiere wie auch Menschen beeinträchtigen. Ein weiteres großes Thema sind die Auswirkungen solch langer, dunkler Winter auf die Psyche des Menschen. Eindrücklich beschreibt Laestadius die harte Arbeit der Samen, deren zurückgezogenes einsames Leben. Kälte und Dunkelheit führen häufig zu Depression und Alkoholkonsum. Selbstmord ist nicht selten. Aufgezeigt wird, dass die staatliche Hilfe nicht auf die Sámische Lebensweise ausgerichtet ist. Sie werden nicht verstanden, stehen somit alleine.

„Sámisch zu sein bedeutete, seine Geschichte in sich zu tragen, als Kind vor dem schweren Rucksack zu stehen und sich zu entscheiden, ihn zu schultern oder nicht. Aber woher sollte man den Mut nehmen, sich für etwas anderes zu entscheiden, als die Geschichte der eigenen Sippe zu tragen und das Erbe weiterzuführen?“

Fazit:

Einfühlsam, bewegend und authentisch schildert Laestadius ein kaum beachtetes Volk, deren Lebensweise und Liebe für die Rentiere und bringt uns so eine Lebensart im Einklang mit der Natur näher. Besonders gefallen haben mir auch die ruhigen Schilderungen der Landschaft, Stille und Weite der Natur sowie der Einsamkeit – ganz ohne verklärte Winterromantik. Trotz einiger Längen lesenswert!

Vielen Dank an vorablesen.de und den Hoffmann und Campe Verlag für das Leseexemplar.

Ann-Helén Laestadius „Das Leuchten der Rentiere“. Roman

Aus dem Schwedischen von Maike Barth und Dagmar Mißfeldt

Hoffmann und Campe Verlag, 2022, 448 Seiten

ISBN: 978-3455012941