Laetitia Colombani „Der Zopf“

Laetitia Colombani „Der Zopf“

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Nur weil etwas schon immer so ist, heißt das nicht, dass es so gut ist und immer so bleiben muss! Veränderung kann im Leben vieler Menschen Positives bewirken. Diese Denkweise veranschaulicht Colombani in „Der Zopf“ an den drei Frauenfiguren Smita, Giulia und Sarah. Sie sind keine Superheldinnen, keine Powerfrauen, keine Amazonen, keine It-Girls; sie sind Frauen, sie sind einfach sie selbst, die entweder für ihre eigene Zukunft kämpfen, für eine bessere Zukunft ihrer Kinder und Familie oder für eine Zukunft von Freunden und Angestellten.

Worum geht es?

Die Lebenswege von Smita, Giulia und Sarah könnten unterschiedlicher nicht sein. In Indien setzt Smita alles daran, damit ihre Tochter lesen und schreiben lernt. In Sizilien entdeckt Giulia nach dem Unfall ihres Vaters, dass das Familienunternehmen, die letzte Perückenfabrik Palermos, ruiniert ist. Und in Montreal soll die erfolgreiche Anwältin Sarah Partnerin der Kanzlei werden, da erfährt sie von ihrer schweren Erkrankung.
Ergreifend und kunstvoll flicht Laetitia Colombani aus den drei außergewöhnlichen Geschichten einen prachtvollen Zopf. (Zusammenfassung des Verlags)

„Sie weiß, dass sie weder unverwundbar noch eine Superheldin ist. Sie wird ab jetzt sie selbst sein, Sarah, eine Frau, die einiges auf ihrem Weg einstecken musste. Eine Frau mit Narben […]. Sie wird nicht mehr versuchen, sie zu kaschieren […] damit soll nun Schluss sein.“ Sarah, Montreal

Wie fand ich es?

Colombani besitzt das Talent, auf wenigen Seiten (insgesamt nur 272) drei ergreifende Welten zu erschaffen. Wo sich manche Autoren oder Autorinnen in Beschreibungen und Details verlieren, die auch zu einer guten Geschichte beitragen können, da konzentriert sich Colombani auf das Wesentliche, nämlich auf den Wendepunkt im Leben dieser drei Frauen. Alle anderen Figuren bleiben eindimensional und blass. Colombani bringt Tatsachen auf den Tisch, spricht Unangenehmes aus. Ihr erster Schritt zur Veränderung heißt: erkennen, dass das Leben wertvoll ist, aber auch dass es ungerecht ist. In vielen westlichen Ländern erfahren Frauen vor allem in der Berufswelt noch immer Ungleichbehandlung und müssen gegen tradierte Bilder und Familientraditionen ankämpfen. In anderen Teilen der Welt können Frauen schon froh sein, überhaupt zu leben. Colombanis zweiter Schritt: selbst für Veränderung im eigenen Umkreis zu sorgen.

„Eine Frau ist ihrem Mann nicht ebenbürtig, sie gehört ihm. Sie ist sein Eigentum, seine Sklavin, Sie muss sich seinem Willen unterwerfen.“ Smita, Indien

Smita wird als Dalit in Indien geboren, als eine Unberührbare, als Abschaum der Gesellschaft, die die Latrinen von Jats und Brahmanen mit bloßen Händen reinigen muss in Ermangelung eines Abwasser- und Toilettensystems – und das ganz ohne Bezahlung und Anerkennung. Sie wünscht sich wie jede Mutter für ihre Tochter ein besseres Leben. Denn sie möchte nicht, dass es Lalita genauso ergeht wie ihr selbst und ihrer Mutter und Großmutter vor ihr. „Wer als Kloputzer auf die Welt kommt, stirbt auch als Kloputzer. Es ist ein Erbe, ein Kreislauf, aus dem niemand ausbrechen kann. Ein Karma.“ Denn niemand übertritt ungestraft die Grenzen seiner Kaste, jede Abweichung vom System wird hart verurteilt. Trotzdem fasst sie den Entschluss und bricht aus ihrem alten Leben aus, flieht mit ihrer Tochter. Sie glaubt zwar an ihre Götter und dass sie bei guter Lebensführung in ein besseres Leben wiedergeboren wird. Jedoch kann sie ihr Schicksal und vor allem das ihrer Tochter nicht akzeptieren. Ihre Tochter hat ein besseres Leben verdient, soll Lesen und Schreiben lernen und eine Perspektive haben. „Man muss nicht hochgeboren sein, um Mut zu haben!“

Giulia ist eine junge, fleißige Frau, die im Familienunternehmen, das seit jeher von den männlichen Familienpatronen geführt wird, arbeitet. Sie ist wissbegierig, freier als ihre Schwestern, zieht sich aber gerne wieder in ihr behütetes Nest zurück. „Sie hasst es, diese junge Frau zu sein, die den Ereignissen seit jeher tatenlos zusieht, die sich nicht traut, in den Lauf der Dinge einzugreifen, um ihnen eine andere Richtung zu geben.“ Nach dem Unfall ihres Vaters entdeckt sie in seinem Büro längst fällige Zahlungsaufforderungen und Mahnungen; die Cascatura Lanfredi steht vor dem Ruin. Ihre Mutter sieht als einzige Möglichkeit, den Schuldenberg abzubezahlen, eine Heirat Giulias mit dem vermögenden Friseursaloninhaber. Giulia sträubt sich vehement dagegen, hat sie doch die Worte ihrer Nonna im Ohr: „Mach, was du willst, mia cara, aber heirate bloß nicht.“ Ihre Mutter und Schwestern verstummen, sind handlungsunfähig so ganz ohne Patrone. Giulia, mit dem Gewicht der Verantwortung gegenüber der Familie und den langjährigen Angestellten auf ihren Schultern, findet ihre Stärke, handelt klug und führt die notwendige Veränderung herbei. Sie befreit sich von den eingefahrenen Familientraditionen und dem Gedanken, von Männern gerettet zu werden. Giulia glaubt nicht an ein Wunder und wartet auch nicht auf eines, sondern realisiert es aus eigener Kraft!

Sarah aus Montreal ist durch viel harte Arbeit, langen Nächten und viel Verzicht zur ersten weiblichen Teilhaberin einer großen Anwaltskanzlei aufgestiegen – eine Powerfrau, die problemlos Kinder, Haushalt und Beruf unter einen Hut bekommt. Für ihr professionelles Erscheinen und die Akzeptanz ihrer männlichen Kollegen trennt sie penibel Arbeits- vom Privatleben, nichts deutet auf ihre drei Kinder hin. Doch sie fühlt sich zerrissen zwischen dem Wunsch, mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen und zur Geschäftsführerin der Kanzlei nominiert zu werden. Ihr Leben nimmt jedoch eine ganz andere Wendung: Diagnose Brustkrebs. Mit Kampfesmut stellt sie sich der Krankheit, muss aber schnell realisieren, dass sie nicht allein gegen den Krebs ankämpft, sondern auch gegen ihre Kollegen. Sie erlebt Diskriminierung: Ihr werden Mandate entzogen, ihre Leistung wird kleingeredet, ihr Engagement infrage gestellt, und sie wird plötzlich nicht mehr zu Besprechungen hinzugebeten. Sie fühlt sich wie eine „Unberührbare“, eine Geächtete. Sarah konstatiert verzweifelt: Sie wird kaltgestellt. Statt Unterstützung erfährt sie die Machtgier und Skrupellosigkeit ihrer Kollegen, die jede Schwäche ausnutzen. „Funktioniere oder krepiere“ ist das Motto der Kanzlei. Für ihre Familie schöpft sie jedoch neuen Mut und Kraft, macht wieder Pläne und kämpft gegen diese Kaltschnäuzigkeit und Ungleichbehandlung an.

Colombanis leichte und lockere Sprache mit Witz und Ironie steht im krassen Kontrast zur Aussage. Simple Sätze kombiniert sie souverän mit schwer verdaulichen Inhalten. Sie verharmlost nicht, übertreibt aber auch keineswegs, weder bezogen auf die Situation in der westlichen noch auf die in anderen Teilen der Welt. Die Realität sieht so aus:

„Dabei tötet man nicht weit von hier neugeborene Mädchen. In den Dörfern von Rajasthan verscharrt man sie lebend in einer Kiste unter dem Sand, gleich nach ihrer Geburt. Es dauert eine ganz Nacht, bis die kleinen Mädchen sterben.“

„Einen Mann, der seine Schulden nicht begleicht, straft man, indem man sich an seiner Frau vergeht. Einen Mann, der einer verheirateten Frau nachsteigt, straft man, indem man seine Schwestern missbraucht. Die Vergewaltigung ist eine äußerst wirkungsvoller Waffe, eine Massenvernichtungswaffe.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Fazit

Beeindruckend und beispielgebend fand ich die Erstarkung und Selbstwerdung der Frauen, egal in welcher Situation sie sich befanden: im Kampf gegen den eigenen Körper, gegen die eigene Familie, gegen das System oder gegen eingefahrene Ansichten. Sie haben erkannt, dass sie selbst für ihr Leben verantwortlich sind, Veränderung selbst herbeiführen müssen und können und so zu einer besseren Welt beitragen.

In aller Kürze: ein Mut machender wundervoller Roman!

Der Zopf

Laetitia Colombani

Aus dem Französischen von Claudia Marquardt

S. Fischer Verlag, 2018, 272 Seiten

ISBN: 978-3103973518