Mario Schlembach „heute graben“

Mario Schlembach „heute graben“

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Poetenclown mit Galgenhumor

Nicht nur der fiktive Lektor wünscht sich eine Geschichte übers Totengräberdasein – meine anfänglichen Erwartungen gingen auch erst in diese Richtung. Wer kann schon ahnen, dass sich hinter dem Ich-Erzähler Mario ein kitschiger Poet, ausschweifender Philosoph und pathetischer Liebeskranker steckt? Der autofiktionale Roman im Tagebuchstil gibt darauf vielleicht schon einen Hinweis.

Worum geht es?

Alles beginnt mit A. Ein Totengräber steigt in einen Zug und trifft A., seine erste Liebe. A. ist auch der Grund, weshalb er zu schreiben beginnt. In seinem Tagebuch begibt er sich auf eine Irrfahrt entlang der Untiefen des Dating- und Friedhofsalltags. Als bei ihm dieselbe Lungenkrankheit wie bei Thomas Bernhard diagnostiziert wird – kurioserweise, nachdem er sich intensiv mit dessen Werk auseinandergesetzt hat –, befeuert die Todesangst noch die unermüdliche Suche nach der wahren Liebe. Wird er sie finden oder bleibt sie für immer unerreichbar? (Inhaltsangabe des Verlags)

Wie fand ich es?

Mario berichtet in seinen Tagebucheinträgen, aufgeteilt in 5 Heften, von seiner großen (vielleicht auch einzig wahren) Liebe namens A. Um sie zu vergessen, stürzt er sich sowohl in Verabredungen mit anderen Frauen B. bis Z. wie auch schreibt er die gemeinsame Geschichte mit A. nieder – eine Suche nach dem neuen Glück und ein Versuch der Selbstheilung. Die Hauptfrage im gesamten Roman bleibt: Kann er A. loslassen, indem er sie sich von der Seele schreibt? Wird das Schreiben zum Befreiungsschlag oder zum Anker, um A. nicht gänzlich zu verlieren?

Außergewöhnlich und fast unglaublich, aber immer noch authentisch schwärmt der Ich-Erzähler von seiner wahren Liebe zu A. sowie von seinen daran anschließenden Liebschaften. Seine Sehnsucht nach Liebe versucht er mit seinen neuen Verabredungen zu stillen. Er gibt sich den Leser*innen sowie seinen Freundinnen völlig hin, verfällt ihnen teilweise mit Haut und Haaren. Er träumt nicht nur von ihnen, sein Schwärmen nimmt gar wahnhafte Züge an. Manchmal ist Realität und Traum bzw. Wunschvorstellung nicht voneinander zu unterscheiden. Den Leser*innen legt Mario sein Innerstes offen: Ängste, Verlust, Trauer – gleichzeitig kommen wir ihm nicht näher. Seine Beziehungen scheitern auch daran, dass er seine Geliebten idealisiert und poetisiert, und leider ist auch immer der Versuch nicht weit, in jeder Frau A. wiederzuentdecken. Dies macht es ihm allerdings schwer, neue Beziehungen zu vertiefen. Zusätzlich verliert er sich in seiner eigenen Gedankenwelt und nimmt kaum wahr, wie er sich von seiner Umgebung entfremdet.

„Meine Welt lag jetzt in ihren Augen.“

Ein weiteres großes Thema ist seine Krankheit. Er findet Erklärung für sie mal in seinem Studium von Thomas Bernhard, der daran ebenfalls erkrankte und starb, mal in seiner zerbrochenen Beziehung zu A. (vergrabene Trauer, die ihn von innen auffrisst), mal in seiner Arbeit als Totengräber. „Nichts als Vernarbungen. Wenn die Lunge der Sitz der Trauer ist, dann muss meine einem Schlachtfeld gleichen.“

Besonders wertvoll an diesem Roman ist die Sprache. Mir haben vor allem die Wortneuschöpfungen sehr gefallen, die Marios ausschweifende, tiefgründige Überlegungen und seinen Charakter widerspiegeln. Mario ist selbstironisch, unsicher, schwankt zwischen Euphorie und Trübnis, Selbstzweifeln und Hoffnung. Seine Wortkreationen zeichnen seine Gedankenwelt aus. In ihm steckt ein Poet alter Schule, der Frauen mit Liebesversen, Schmeicheleien oder Zitaten zu überzeugen versucht, um von sich abzulenken. „Bloß Selbstzweifel versüßt mit Sehnsuchtsballaden.“ Ja, er wirkt dadurch absolut kitschig, pathetisch, theatralisch, sentimental – und doch irgendwie passt es zu der Figur. Durch seine poetischen Phrasen baut er jedoch eine Mauer auf, lässt niemanden an sich heran, nur in Gedanken A. So bleibt er auch dem Leser bzw. der Leserin teilweise unzugänglich.

„‚Ich hoffe, du träumst noch von mir…‘ (J.) – ‚Es geht gar nicht anders – dich zu träumen ist mein Atem.‘“

Neben „Kitschwahn“ und „Sehnsuchtsnarrentum“ hat mich auch die besondere Komik gefesselt, die hervorragend zu einem Totengräber passt: trockener Galgenhumor. „Eine einfache Verkühlung und ich denke, ich muss sterben. Wahrscheinlich eine Berufskrankheit.“

Fazit:

„Und wer gewinnt diesen Kampf? Die romantische Seele? Der Todestrieb? Die künstlerische Hybris? Der Egomane im Schafpelz? Der Weltschmerzhypochonder? Oder der Depressionsclown, der tagtäglich seine Rolle als Totengräber spielt?“ – Eine Antwort darauf liefert uns Schlembach allerdings nicht. Auch fehlt mir eine Weiterentwicklung des Protagonisten. Die Geschichte kommt nicht voran, daher vielleicht auch das fehlende Ende – egal ob offen oder nicht. Trotzdem habe ich gerne mit Mario mitgefiebert und mit ihm auf Genesung, auf die wahre Liebe und den schriftstellerischen Erfolg gehofft.

Vielen Dank an buchcontact für das Leseexemplar.

Mario Schlembach

heute graben. Roman

Kremayr & Scheriau, 2022, 192 Seiten

ISBN: 978-3-218-01295-9