Markus Orths „Mary & Claire“

Markus Orths „Mary & Claire“

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Was wisst ihr über die Schriftstellerin Mary Shelley? Ich habe als Erstes natürlich an ihren berühmten Schauerroman„Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ gedacht, der für zig Film- und Fernsehproduktionen Pate gestanden hat. Dass sie aber ein spannendes und entgegen den allgemeinen gesellschaftlichen Ansichten des beginnenden 19. Jahrhunderts recht modernes Leben geführt hat, erfahren wir in Markus Orths Roman „Mary & Claire“. Orths folgt den historischen Spuren von Mary und ihrer Stiefschwester Claire, die den Rahmen seines Romans bilden, und füllt die Lücken, das Verschwiegene und Verborgene kreativ auf. Es ist in weiten Teilen eine Art Coming-of-Age-Roman über zwei junge Frauen in einer Sprache, die den Zeitgeist einfängt.

Worum geht es?

Markus Orths mitreißender Roman über die Schriftstellerinnen Mary Shelley und Claire Clairmont – eine sprudelnde Geschichte über die Literatur, das Leben und die Liebe
Nach einer wahren Begebenheit: Die Stiefschwestern und Schriftstellerinnen Mary Shelley und Claire Clairmont lieben Percy. Und Percy liebt Mary & Claire. An seiner Seite entfliehen die Frauen der Londoner Enge. Sie wollen atmen, reisen, lesen, wollen verrückt sein, lieben und schreiben. Und sie nehmen den schillerndsten Popstar der Literatur Anfang des 19. Jahrhunderts in ihre Gemeinschaft auf: den jungen Lord Byron. Bei heftigen Gewittern treffen sie sich am Genfer See. Opiumberauscht schlägt Byron um Mitternacht ein Spiel vor: Wer von uns schreibt die schaurigste Geschichte? Für Mary & Claire wird nach dieser Nacht nichts mehr so sein wie zuvor. Ein mitreißender Roman, der Geschichte lebendig macht. (Verlagstext)

Wie fand ich es?

Besonders gefallen haben mir neben den letzten 100 Seiten (!) die ersten Kapitel des Romans. Orths schafft eine schauerlich traurige Atmosphäre, denn wir begegnen Mary ausschließlich auf dem Friedhof am Grab ihrer Mutter, die 11 Tage nach ihrer Geburt gestorben ist. Mit 5 Jahren besucht Mary sie zusammen mit ihrem Vater. Fortan bedeutet dieser Ort für sie Zuflucht und Besinnung. Wir spüren aber auch ihre Verlust- und Schuldgefühle, da sie sich verantwortlich für den Tod ihrer Mutter fühlt und dafür, der Welt eine wichtige Frau zu früh genommen zu haben. Während ihr Vater berühmt für seine anarchistischen Schriften ist, geht ihre Mutter als Feministin in die Geschichte ein. Ihr Werk „Verteidigung der Rechte der Frauen“ bildet später die Grundlage für die Frauenbewegung. Mit diesem Powerpaar im Rücken ist sich Mary bewusst, etwas Besonderes erschaffen zu müssen. Der Dichter Percy Bysshe Shelley ist ebenfalls von dieser Paarung angezogen und verliebt sich in Mary.

„Mary suchte im Schreiben eine Heimat in der Ferne, eine Verbindung zu Vater und Mutter, stillschreibend wollte sie deren Nicken ernten, ihre wohlwollenden Blicke.“

Dualismen spielen in diesem Roman auf vielfältige Weise eine wichtige Rolle: Liebe & Angst, Poesie & Grusel, Licht & Schatten, Sonne & Wolken, Tag & Nacht, Hell & Dunkel, Einsamkeit & Alleinsein, Nähe & Ferne, Leben & Tod. Besonders und durch den Titel noch einmal hervorgehoben bildet das Paar Mary & Claire den deutlichsten Gegensatz, aber auch eine wichtige Verbindung, wie Percy selbst feststellt:

„Percy liebte Mary & Claire. Claire schien wirklich eher die Sonne zu sein, ein unbekümmert helles Streulicht, er nannte sie die strahlende Schwester des Tages, Claire verjagte Grübeln und Missmut, […] ja Claire war ein Irrwisch. Mary dagegen glänzte milder, zu ihr passte das Mondlicht. Ein nächtliches Wesen, mit schmalem, dünnem Gesicht, langen Fingern, schrecklich elegant. Mary war die Tastende, die Staunende, mit ihr konnte Percy grübeln und verzweifeln über die Welt und die Dinge, die er nicht verstand, Mary konnte seine Gedichte fühlen wie niemand sonst. Wie schön war es aber, wenn Mary & Claire in ihr Gegenteil kippten kurz nur, wenn Claire traurig schaute oder Mary freudig erregt. Wenn der Mond zur Sonne wurde und die Sonne zum Mond. Das kam seltener vor, aber wenn, dann waren es glitzernde Augenblicke, in denen die beiden etwas bejahten, was sie für gewöhnlich scheuten.“

Mary & Percy folgen ihren tiefen Gefühlen füreinander, ohne auf Konventionen zu achten. Ihre freie Liebe wird genauso wie ihre Ménage-à-trois Mary & Claire & Percy von der Gesellschaft missbilligt. Trotz seiner Schriften zur freien Liebe und gegen die Ehe duldet auch der Vater diese Verbindung nicht, befürchtet er doch einen Skandal und Rufschädigung. Nachvollziehbar ist, dass Mary trotz dieser Abweisung weiter nach der Anerkennung ihres geliebten Vaters strebt und ihm seine Doppelmoral verzeiht. Neben der Liebe dominieren vor allem schaurige Szenen, traurige Erlebnisse, die von Verlust und Abschied geprägt sind.

„Das Gegenspiel der Liebe, wusste Percy von Kindesbeinen, das war die Angst.“

Spannend ist, dass sich die Figuren nicht nur gegenseitig ihre Liebe zueinander in jeder erdenklichen Form gestehen, sondern auch ihre Liebe zur Literatur, zur Poesie, zu Büchern und zum Wort ausdrücken. Manchmal empfand ich diese Liebesbekundungen etwas zu ausschweifend, besonders die Liebesbriefe zwischen Mary & Percy während ihres Hausarrests sind ein Feuerwerk der Gefühle junger, frisch verliebter Menschen – das muss man aushalten können! Orths stellt aber auch heraus, dass das Schreiben für Mary sehr wichtig ist und ihr hilft, die vorherrschende Trauer und den Verlust geliebter Menschen zu verarbeiten und sich ihrer Mutter nahe zu fühlen, in deren Fußstapfen sie treten möchte. Mit Claire, die selbst kreativ ist, schreibt und mit jeder Seite wächst, und Percy teilt sie diese Leidenschaft. Ergänzt wird das Trio zeitweise um Lord Byron und Polidori, durch die Mary an einem stürmischen, mit Alkohol und Laudanum getränkten Abend die Geschichte um Frankenstein ersinnt.

„Das, was sie vorlesen wollte, bedeutete ihr alles. Es entsprang dem, was ihre Mutter getan hatte und ihr Vater immer noch tat: schreiben. Nichts weiter. Schreiben, erfinden, erzählen, erschaffen. Ihr Vermächtnis: Papas Lieblingswort Schreiben. Und das als Frau. Gegen alle Regeln. Für eine Frau gab es Schminke: statt Tinte; ein weißes Hochzeitskleid: statt weißes Papier; Kinder: statt Bücher; Stummheit: statt Stimme; Frauen sollten nichts Schönes schaffen: sondern schön sein; nicht denken: sondern gehorchen; statt aufzubegehren: entsprechen. Frauen sollten gefälligst der Wirklichkeit dienen: nicht der Einbildungskraft. ‚Aber ich kann nicht anders‘, sagte Mary. ‚Ich muss es tun. Schreiben. Ich weiß das. Hier drin.‘“

Fazit

Ich habe mich in den Anfang und das Ende von „Mary & Claire“ verliebt – so schaurig-schön erzählt! Für die vor Liebe überschäumende Mitte musste ich etwas Geduld aufbringen, es lohnt sich aber, denn ohne die Liebe wirkt der Schrecken nicht.

Vielen Dank an den Hanser Verlag für das Rezensionsexemplar.

Markus Orths „Mary & Claire“

Carl Hanser Verlag, 2023, 304 Seiten

ISBN 978-3-446-27621-5