Négar Djavadi „Die Arena“

Négar Djavadi „Die Arena“

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Gladiatoren in der römischen Arena? Wer denkt bei dem Wort „Arena“ nicht als Erstes an die römischen Wettkampfarenen, in denen es für die Gladiatoren um Sieg oder Niederlage ging? Doch Négar Djavadis „Die Arena“ hat wenig damit gemein. Hierin gibt es weder Sieger noch eine jubelnde Menge. Austragungsort ist das heutige Paris, vor allem die Banlieues, und die Protagonisten kämpfen nicht für Ruhm und Ehre, sondern ums nackte Überleben. Zu siegen ist kaum möglich, denn es scheint so, als wären alle Figuren mehr oder weniger Verlierer – „Opfer des Unglücks“.

Worum geht es?

Benjamin Grossman hat es geschafft, so glaubt er: Einst in einem Pariser Problemviertel aufgewachsen, ist er als Europachef des amerikanischen Streaming-Anbieters BeCurrent, vergleichbar mit Netflix, in die Stadt zurückgekehrt. Ein kleiner, banaler Fehler zieht aberwitzige Folgen nach sich: Er verliert sein kostbares Handy – mit George Clooneys Privatnummer! – oder wurde es ihm gestohlen? Der Junge, den er als Dieb verdächtigt und gegen einen Eisenzaun geschubst hatte, wird am nächsten Morgen tot aufgefunden. War er Schuld daran?
Eine junge, türkischstämmige Polizistin tritt dem Toten, den sie für betrunken hält, in die Seite. Ein zusammengeschnittenes Video davon geht viral: Ganz Paris, die dauererregte Stadt der sozialen Gegensätze, der Reichen und Geflüchteten, der Migranten und Medienmogule, ist in Aufruhr – und die sozialen Medien wirken als Brandbeschleuniger. In einer Art Victor Hugo-Roman 2.0 über Paris als eine Weltstadt des radikalen Wandels erzählt Négar Djavadi in dieser rasanten Geschichte von Menschen unter Druck, von Siegern und Besiegten, von einer Jugend, die keinen Schutz mehr zu genießen scheint, und von einem Erfolgszwang, der immer neue Opfer fordert. Ein faszinierendes Panorama unterschiedlichster Milieus, ein großer Gesellschaftsroman über eine Stadt, in der ein kleiner Funke riesige Brände entfachen kann. (Verlagstext)

Wie fand ich es?

In 3 Teilen, angelehnt an ein klassisches Musikstück, Präludium, crescendo und furioso, stellt Djavadi Menschen in den Mittelpunkt, die von der Allgemeinheit übersehen und ignoriert oder gar gehasst und verachtet werden – in einer Umgebung, in der Drogen, Gewalt, Mord, Prostitution, Erpressung, Armut, Krankheiten, Verwahrlosung dominieren. Die Polizei auf der anderen Seite, die die gesellschaftliche Kluft überbücken muss, ist macht- und hilflos. Hartes Eingreifen und Polizeipräsenz werden von den einen scharf kritisiert und öffentlich angeprangert, die anderen verlangen danach, sehen sie doch Regeln und die öffentliche Sicherheit bedroht (siehe Räumung eines unerlaubten Flüchtlingslagers). Jeder ihrer Schritte wird genau beobachtet. So ist es nicht verwunderlich, dass ein Video über Polizeigewalt gegenüber einer Leiche viral geht und Stürme auslöst, die wiederum in Gewalt münden.

„Jetzt stellt sie entsetzt fest, dass es keine Grenzen, keine Mauern gibt, um sie zu schützen. Die heiligen Werte der Polizei, der Respekt vor der Hierarchie, der Ehrenkult, der Einsatz für das Gemeinwohl, pro patria vigilant … All das bedeutet nichts. Sobald sie in die Arena steigen und sich Auge in Auge mit der blinden, komplexen, rohen Realität wiederfinden, werden sie so verwundbar wie ein Säugling. Von überallher, jederzeit, kann plötzlich jemand auftauchen, in ihr Leben eindringen oder es an sich reißen und sie auf die andere Seite katapultieren. Unter die Schurken und die Kriminellen. Und dann wird es niemanden mehr geben, der sie beschützt.“

Das Besondere an diesem Roman ist gleichzeitig auch seine Schwachstelle. Die Handlung baut sich langsam auf und wird ebenso langsam fortgeführt. Djavadi legt ihren Schwerpunkt auf jede einzelne Figur, zeichnet Haupt- wie Nebencharaktere sehr detailliert. Sei es die verzweifelte, überarbeitete alleinerziehende Mutter, der zwiegespaltene Polizeichef oder der Flüchtling, der ein neues Heim gefunden hat und sich deshalb seinen Landsleuten gegenüber, die im improvisierten Camp weiter ausharren, schuldig fühlt. Die Menschen in den Cités kennen weder Hoffnung noch Zukunftsperspektive. Sie leben im Jetzt, kämpfen um jeden weiteren Tag. Ein Riss offenbart sich zwischen den Flüchtlingen, Migranten und den farançavi, die sich ein „keimfreies“ Viertel wünschen. Besonders, realistisch, eindrucksvoll. Auch die Orte, die verwahrlosten Sozialbausiedlungen, ärmlichen Lebensverhältnisse werden gnadenlos skizziert. Durch diese Schattenseiten entsteht ein sehr klares, hartes Bild, das authentisch wirkt. Kein verträumtes Paris, keine Stadt der Liebe. Wir lernen eine Stadt kennen, die kein Tourist je betreten würde.

„Wer noch nie in Paris war, wer nur an Postkarten oder die prunkvollen Panoramen französischer Exportfilme denkt, kann sich nicht vorstellen, dass dieses Viertel […] nur etwa dreißig Gehminuten von schicken Marais entfernt liegt. Anders als auf diesen weichgezeichneten Bildern sind wir hier am Nullpunkt architektonischer Harmonie angelangt. […] Man könnte meinen, je mehr sozial Schwache in einem Viertel leben, desto weniger Aufmerksamkeit und Beachtung hat es verdient.“

Jeder neue Handlungsschritt wird aus einer anderen/neuen Perspektive erzählt. Verbunden werden diese neuen Blickwinkel durch einzelne Orte, Ereignisse oder durch Gesehenes und Gesagtes, ähnliche Gedanken, Tweets. Teilweise überfordern diese detailreichen Schilderungen, drängen die Handlung in den Hintergrund. Was aber bleibt, ist eine düstere Stadt, in der Schlechtes regiert und das Leid vorherrscht. Ein Gotham City nur viel realistischer und ohne Superhelden.

Djavadi prangert gesellschaftliche Ungerechtigkeit und Ungleichheit an. Sie bildet eine Gegenwart ab, die gar nicht so weit von unserer weg ist, in der gesellschaftliche Probleme ans Licht kommen. Ein Frankreich, das vor enormen, schier unlösbaren Problemen steht: soziale Schere, Gentrifizierung, Armut und Chancenlosigkeit, zunehmende Gewalt und Hilflosigkeit der Behörden. Sie macht auch auf die Macht der sozialen Medien aufmerksam. Zeigt einen Weg auf, den ein manipuliertes Video geht und der zu Shitstorms, Aufständen und Tod führt.

Fazit

„Die Arena“ ist ein ehrlicher, gnadenloser, aktueller gesellschaftskritischer Roman. Absolut keine Wohlfühlliteratur und nichts für nebenbei. Wenn man sich allerdings darauf einlässt, ist es eine besondere, wertvolle Lektüre.

Vielen Dank an den C.H. Beck Verlag für das Leseexemplar.

Négar Djavadi „Die Arena“

Aus dem Französischen von Michaela Meßner

C.H.Beck Verlag, 2022, 463 Seiten

ISBN: 978-3-406-79126-0