Norbert Scheuer „Mutabor“

Norbert Scheuer „Mutabor“

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Wer war mein Vater? Was ist mit meiner Mutter geschehen? Fragen, auf die Scheuers Hauptfigur Nina Antworten sucht, nur fehlt ihr die Unterstützung der Dorfbewohner. Die Dorfältesten, die jede Bewegung und jedes Vorkommnis aufsaugen, verstummen, sobald Nina sie auf ihre Vergangenheit anspricht. Wie kann sie die Wand des Schweigens durchbrechen? Steckt gar eine große Dorftragödie dahinter? Eine mythologische Spurensuche beginnt.

„Mir tut das Leben weh, es schmerzt. Und da ist es doch ganz natürlich zu fragen, woher der Schmerz kommt – und der liegt nun einmal in der Vergangenheit, und die kann ich nicht einfach beiseiteschieben.“

Worum geht es?

Die junge, elternlose Nina Plisson weiß nicht, was aus ihrer Mutter geworden ist und auch nicht, wer ihr Vater war. Wissen andere in ihrer kleinen Heimatstadt Kall mehr? Was wird ihr vorenthalten? Nachdem das vereinsamte und widerspenstige Mädchen lange Zeit große Schwierigkeiten hatte, lesen und schreiben zu erlernen, wird sie sich, angeleitet von der pensionierten Lehrerin Sophia Molitor, grundlegend verändern. Sie beginnt, Erinnerungen aus ihrer frühen Kindheit aufzuschreiben, vom Liebhaber ihrer verschollenen Mutter, in der Gestalt eines schwarzen Storches, von der Reise mit Großvaters Opel Kapitän ins sagenhafte Byzanz, zum Palast der Störche, und später dann, von ihrer großen, zunächst vergeblichen Liebe zu Paul Arimond. Für Nina verwandelt sich das Urftland mehr und mehr in einen Ort voller Märchen und Mythen, wie sie auf den Bierdeckeln von Evros, dem griechischen Gastwirt, stehen. Immer näher kommt sie einem Geheimnis, das ihr all die Jahre beharrlich verschwiegen wurde. Einfühlsam und spannend erzählt Norbert Scheuer in seinem neuen Roman mit dem ihm eigenen poetischen Ton von der Suche einer einsamen jungen Frau nach ihrer Geschichte, nach Zugehörigkeit und Glück. (Verlagstext)

Wie fand ich es?

Die Kapitel werden eingeleitet durch poetische Bierdeckelphrasen, die der Gaststättenwirt Evros mühevoll stempelt. Zu lesen ist eine Mischung aus griechischer Mythologie, Fantasie und dörflichen Erlebnissen. Die Bierdeckel wirken auf mich wie ein allwissender Erzähler, der in Rätseln spricht. Vielleicht steckt auch verschleiert Ninas Geschichte darin?

Bevor Nina volljährig wird, sich vom Vormund nach dem Tod ihrer Großeltern und dem Verschwinden ihrer Mutter befreien und endlich ihre ersehnte Reise nach Byzanz antreten kann, will sie herausfinden, was damals geschehen ist. Doch die Dorfbewohner schweigen (schuldbeladen?) allesamt. Niemand mag Nina helfen, die Puzzleteile zusammenzusetzen. Mithilfe ihrer eigenen Erinnerungsschnipsel an ihre Mutter, Andeutungen und ihrer Hartnäckigkeit kann sie immer mehr aus der Vergangenheit aufdecken. Die Zeit mit „Tante“ Sophie ermöglicht ihr eine neue Perspektive, bringt ihr die Welt des Lesens näher und regt an, ihre Geschichte in Worte zu fassen. So beginnt Nina, ihre eigenen Vorstellungen von der weiten Welt und ihre Gedächtnissplitter an ihre Mutter in ihren Heften festzuhalten. In diesen Momenten wirkt sie frei, unbeschwert und nahezu glücklich, wie verwandelt – worauf auch der Titel „Mutabor“ verweist.

„Sophia sagte mir immer wieder, wie schön es sei, die Dinge aufzuschreiben, die einen beschäftigen; keiner redet dazwischen oder macht sich lustig über das, was man denkt. Man könne ganz bei sich sein, und doch lausche einem die gesamte Menschheit. Die Geschichten erweisen sich als Reiserouten und Schatzkarten im Kopf […]. Sie meinte, es könne doch höchst interessant sein, so eine Karte von sich anzufertigen, […] auch wenn sie zunächst noch so verworren wäre, man sich verirrte […]. Vielleicht könnte ich auf diese Weise auch einiges über meine Herkunft erfahren, und das, versicherte sie, sei doch das Wertvollste, was ich mir wünschen würde.“

Nina ist unabhängig und eigenständig, lebt allein in der Mansarde des großelterlichen Hauses, doch hat das auch seinen Preis. Der heranwachsenden Waise ist in ihrem kurzen Leben bereits viel Schlechtes widerfahren. Sie kämpft mit der Angst, alleingelassen zu werden, mit Verlust, Ablehnung, Ausgrenzung, sexuellen Übergriffe und Gewalt. Nur von wenigen Menschen erfährt sie Freude, Bestätigung und Freundschaft. Besonders schön finde ich die glücklichen Momente, die Nina mit ihrem Opa auf ihren Reisen nach Byzanz (sie kommen immer nur ein paar Straßen weit, träumen sich aber in die Ferne) erlebt. Ihr Großvater erzählt ihr das Märchen „Kalif Storch“ und verwebt es mit der Realität und ihrer eigenen Geschichte. So werden Wirklichkeit und Fantasie immer wieder miteinander verflochten.

Eben diese Einbindung mythischer Elemente und Märchen neben der allzu realen Suche nach der eigenen Geschichte wirkt faszinierend. Ich habe mich immer wieder gefragt, wie es möglich ist, in so einem kleinen Band so viele Bedeutungsebenen und Anspielungen einzuflechten! Über allem und im Titel ja bereits angedeutet schwebt Hauffs Märchen von den Störchen. Dieses überträgt Nina in ihre Wirklichkeit. Es treten weiße Störche auf, schwarze pickende Störche im Mantel des Liebhabers ihrer Mutter, Grauköpfe, Uhus, Adebare und Pegasos.

Ninas Suche nach ihrer Identität wird genährt durch mythologische Geschichten von ihrem Großvater und dem Wirt Evros, durch ihre Lektüren und ihre fantastischen Träume. Ausgang der Erzählungen und Fantastereien stellen ihre Tintenklecksbilder dar, die sie während des Unterrichts angefertigt hat. Anhand dieser Bilder versucht sie ihr Leben, ihre Gefühle zu verschriftlichen – ein wundervolles Zusammenspiel! Die Zeichnungen erinnern auch ein wenig an den psychologischen Persönlichkeitstest, bei dem mithilfe von Faltbildern Schlüsse auf die Persönlichkeit gezogen werden. Nina versucht nun, diese Bilder zu versprachlichen und für andere verständlich zu machen.

„Du meintest damals, ich solle alles aufschreiben, was mir Rätsel aufgibt. Aber du hast mir nie geholfen, diese Rätsel zu löse, Antworten auf meine Fragen zu finden. Warum hast du meine Fragen nicht auch zu deinen gemacht?“ Sophia starrt wie versteinert auf die Straße, und in diesem Moment scheint mir ihr langes Leben mit meinem noch kurzen auf rätselhafte Weise verknüpft zu sein.“

Es steckt so viel in diesem Roman, dass es nicht immer leicht ist, allem zu folgen und dahinter zu blicken. Wer war wer? Ist das noch Wahrheit oder Einbildung? Auch der Perspektivwechsel von der Icherzählerin Nina in die personale Perspektive erwachsener Figuren ist ebenfalls ein Mix aus Realem und Irrealem. Ein waches Lesen ohne viele Unterbrechungen ist hier tatsächlich nicht so verkehrt, um selbst kleine Hinweise auf Ninas Mutter zu entdecken und um Parallelen aufzudecken. Aber Ninas leichte, unbekümmerte Art unterstützt dabei, den Plot zu entwirren.

„In den letzten Monaten habe ich vieles von dem aufgeschrieben, was mit meiner Mutter geschehen ist. Mit jedem Wort fiel eine Last von meiner Seele. Zuletzt empfand ich ein Glücksgefühl, das sich in mir ausbreitete, mich verzauberte, mich so leicht machte, dass ich glaubte, mit den Störchen oben am Himmel zu schweben.“

Fazit

Schön, wie aus vielen kleinen Puzzleteilen in mühevoller Sucharbeit ein Gesamtbild entsteht. – Auch wenn gerade dieses einen doch bitteren Beigeschmack hat, hinterlässt Scheuer am Ende bei mir ein positives Gefühl. Eine zauberhafte, berührende Geschichte, eine poetische Sprache kombiniert mit verdichtetem Erzählen.

Vielen Dank an den C.H. Beck Verlag für das Leseexemplar.

Norbert Scheuer. Mutabor, Roman

C.H. Beck Verlag, 2022, 192 Seiten

ISBN: 978-3406781520