Ute Lemper „Die Zeitreisende. Zwischen Gestern und Morgen“

Ute Lemper „Die Zeitreisende. Zwischen Gestern und Morgen“

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Wer seine Leidenschaft zum Beruf gemacht hat, seinen Traum lebt und auch seine Familie davon ernähren kann, der sollte doch im Glück schwelgen, oder nicht? In der Autobiografie „Zeitreisende“ von Ute Lemper (*1963) wird den Lesenden schnell klar, dass Ute Lemper ihr Glück nicht im kleinbürgerlichen Leben im beschaulichen Münster finden soll. Lemper, ihr Temperament, ihre Impulsivität sind für die Bühne, für das Scheinwerferlicht geschaffen. Ihre künstlerische Vielseitigkeit ist beeindruckend: Gesang, Tanz, Spiel und Malerei.

„Nur wenn man zu weit geht, kann man herausfinden, wie weit man gehen kann.“

Das Glück fällt einen aber nicht einfach so in den Schoß. Lemper zeigt auf, dass sie für ihr Glück und ihren Erfolg kämpft, sich körperlich und psychisch an die Grenzen bringt und darüber hinaus. Dass Talent allein nicht ausreicht. Nach Ballett- und Klavierunterricht in ihrer Jugend studierte sie Tanz und Schauspiel in Köln und Wien und stieg direkt mit einer Rolle in Cats in die Musical-Welt ein. Viele weitere Produktionen folgen: Peter Pan, Cabaret, Blauer Engel, Chicago. Sie reist damit durch die Welt, von Berlin über Paris und London bis zum Broadway nach New York. Bei ihren Beschreibungen der Choreografien (z. B. auch von Pina Bausch!) zu den verschiedenen Musicals und Bühnenshows taten mir die Knochen schon vom Mitlesen weh. Lemper trainiert hart, verlangt viel von sich. So gab sie auch Shows mit Bandscheibenvorfällen, grippalen Infekten, Wirbelverletzungen, Migräneattacken und Knoten auf den Stimmbändern. Alles nimmt sie in Kauf, um die Menschen, die zu ihren Auftritten kommen, zu begeistern und zu beseelen.

„Ich gab mein Herz und meine Seele jeden Tag in vollen Zügen preis und arbeitete so hart, dass ich manchmal dachte, es sei der letzte Tag meines Lebens. Und doch fand ich darin mehr Energie.“

Berühmt geworden ist sie für die Wiederbelebung der entarteten Werke jüdischer Komponisten aus der Zwischenkriegszeit, der Weimarer Klassik. Sie tourt vor allem mit Stücken von Bertolt Brecht sowie Kurt Weill und Friedrich Holländer durch die ganze Welt, ist somit auch Botschafterin der deutschen Sprache. Mit der Auswahl dieser Musik setzt sie aber vorrangig ein politisches Zeichen. Als Deutsche auf internationalen Bühnen singt sie gegen das Vergessen und will den zu Unrecht Vertriebenen und Ermordeten eine Stimme geben. Ihre Empathie für ihre Mitmenschen, Trauer und Scham für die Taten der Nationalsozialisten findet auch Anerkennung bei ihren jüdischen Freunden und Bekannten.

„Leiden und Glück als ewige Pole reichen sich sehnsüchtig und gierig die Hände, tanzen miteinander, bevor sie sich zerschmettern auf der Bühne des Lebens. Nichts kann das authentischer erfassen als Musik.“

Spannend finde ich auch ihre Erzählungen von besonderen zeitgeschichtlichen Momente, wie der Fall der Mauer und das erste Jahr nach der Öffnung mit dem legendären Konzert „The Wall“ am Potsdamer Platz (Unglaublich!), Russland nach „Perestroika“, der Terroranschlag 9/11 (Gänsehautmoment!), die Präsidentschaftswahlen von Obama und Trump, ihr Blick auf die Coronapandemie. Sie ist immer nah dran, spricht mit den Menschen vor Ort und zeigt, dass z. B. die Wiedervereinigung Deutschlands in der Umbruchzeit gerade den einfachen Menschen im Osten nicht Glück und Freude, sondern häufig Arbeitslosigkeit, Hunger und Armut gebracht hat.

„Ich trage Glücklichsein wie ein Geschenk des Traurigseins in mir.“

Nach wie vor ist es für mich unverständlich, warum Ute Lemper in ihrem Heimatland so wenig Anerkennung, vielmehr Spott und Missgunst, wie Marlene Dietrich, Hildegard Knef oder Romy Schneider vor ihr, erfährt. Ute Lemper ist eine starke, freie, empathische und emanzipierte Frau, die für ihren Traum kämpft, Heimat und ein Zuhause in ihrer Kunst und den Menschen in ihrer Umgebung, dem Theaterensemble, den Musikerkollegen und ihrer Familie findet.

„Ich bin nicht außergewöhnlich, sondern lebe, lache und weine, wie alle anderen.“

Ihre Autobiografie wird anfangs ergänzt von Auszügen der „jüngeren Ute“ aus ihrer ersten Biografie „Unzensiert“ von 1994. Ihr Schreibstil ist geprägt von Bildern, Mitgefühl und der Liebe zur eigenen Sache. Sie schreibt poetisch, verflochten und bildstark.

Fazit: Ein Blick in das Leben einer großartigen Künstlerin, die ihren eigenen Weg gegen alle Widrigkeiten geht, für ihr Glück jeden Tag von Neuem kämpft und ein Zuhause in der Musik und Familie findet.

Vielen Dank an Gräfe und Unzer und vorablesen.de für das Leseexemplar.

Ute Lemper „Die Zeitreisende. Zwischen Gestern und Morgen“

Gräfe und Unzer Edition, 2023, 336 Seiten

ISBN: 978-3-8338-8917-2