Yishai Sarid „Schwachstellen“

Yishai Sarid „Schwachstellen“

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Selten habe ich so wenig Mitleid, Mitgefühl und Sympathie für eine Hauptfigur oder fast alle anderen Protagonisten empfunden wie für Siv, seine Familie, seinen Chef oder seine Kollegen in Yishai Sarids Roman „Schwachstellen“. Aber ich schätze, das ist auch gar nicht notwendig. Das Leseerlebnis erwächst aus der Geschichte an sich.

Siv, israelischer Profi-Hacker, der frisch vom Militärdienst in die Dienste einer privaten Nachrichtenfirma tritt, infiltriert mit der Firmensoftware Smartphones von Terroristen und Oppositionellen und installiert Abhörsysteme im Auftrag von Regierungen, Unternehmen oder Privatmenschen. Entgegen seiner fachlichen Expertise als viel geschätzten „Schwachstellenentdecker“ und seiner großen Zukunft in diesem Bereich wirkt er allerdings menschlich sehr unreif, naiv, gedankenlos und egozentrisch. Er sieht in jedem Kommentar ein Affront gegen seine Männlichkeit und bettelt um Bestätigung und Anerkennung. So ist es auch nicht verwunderlich, dass er für die Brüderlichkeit und Lobhudelei seines Chefs empfänglich ist und ihm sozusagen aus der Hand frisst. Auch seine Gedanken in Bezug auf seine Kollegin Iris, seine heimliche große Liebe, sind gruselig und grenzüberschreitend. Diese Negativität, diese Art Antihelden sind wahrscheinlich genau so gewollt. Eine charakterliche Entwicklung und moralische Festigung der Figuren wären dadurch ja immens, und ein Sinneswandel hin zu einem friedenstiftenden Menschen ein beliebter Turn – aber wäre das überhaupt möglich oder realistisch?

„Als ich fertig war, nahm ich den Laptop vom Netz, streckte die Beine aus und verschränkte die Hände im Nacken. Alle im Raum sahen mich bewundernd an, als hätte ich einen Löwen erlegt und mir klebten noch Fleisch- und Fellfetzen zwischen den Zähnen. Ich fühlte mich stark.“

Yishai Sarids Roman ist genauso spannend wie erschreckend. Die Spannung liegt in dem Typus der Geschichte gebettet, einem Spionageroman, der sich an die bekanntesten Geheimagentengeschichten anlehnt, diese aber in die heutige Zeit überträgt. Statt der menschlichen Spionage werden technische Systeme und Smartphones von (angeblichen) Terroristen infiltriert, um an sensible Informationen zu gelangen. Gerade aber das reale Element, die menschlichen Figuren erzeugen beim Lesen das Erschreckende. Denn ist es nicht vorstellbar, dass es so oder ähnlich in staatlichen oder privaten Nachrichtendiensten abläuft? Dass Hacken und illegales Abhören nicht längst gängige Praxis ist, um Kontrahenten ausfindig zu machen?

In dem Roman wird aber auch die Frage gestellt, wer Freund und Feind ist und wer genau das entscheidet. Siv bereist verschiedene Länder, um dort den Regierungen oder Firmen ihr Abhörsystem zu installieren. Er erhält Dossiers mit Informationen über die ausfindig zu machenden Terroristen, die Anschläge planen und die Bevölkerung in Gefahr bringen.

„Wir erhielten einen Hintergrundbericht über ihn [Iraner], aber seine Lebensgeschichte kümmerte mich nicht besonders. Jeder hat seine Aufgabe. Jemand anderes hatte entschieden, wen es umzulegen galt, und ich nahm an, dass er es verdient hatte. […] Wir waren ein hervorragendes Team und übertrafen uns wirklich selbst.[…] und am dritten Tag war die Lebensgeschichte dieses Iraners beendet.“

Es scheint eindeutig zu sein, und doch, je mehr Einblicke er erhält, desto mehr Zweifel machen sich bei Siv bemerkbar, auch sein Körper sendet ihm Signale. Zwar versucht seine Firma den Vorwurf, sie würden sich an Schurkenstaaten verkaufen und sie im Kampf gegen Aktivisten, Terroristen oder Flüchtlinge unterstützen, mit allen Mitteln aus der Welt zu schaffen, doch ein Unbehagen bleibt. Siv wäre allerdings nicht diese unsympathische Figur, wenn er sich bei den ersten Bedenken direkt den „Guten“ zuwenden würde – und genau das macht die Geschichte so unheimlich real. Es ist kein Märchen. Siv denkt egoistisch, menschlich, missbraucht für seine privaten Zwecke, seine Lauschstation, die Software und lässt sich von Geld, Anerkennung und Macht verleiten.

Fazit

„Schwachstellen“ ist ein spannender Politthriller, der gerade im Hinblick auf die aktuellen Weltgeschehnisse Gänsehaut erzeugt und uns mit einem mulmigen Gefühl zurücklässt. Seit der Lektüre betrachte ich mein Smartphone mit anderen Augen.

Vielen Dank an den Kein & Aber Verlag für das Leseexemplar.

Zum Inhalt

Leicht war es nie: Sivs Vater ist ständig pleite, seine Mutter geht mit einem Arzt fremd und seine jüngere Schwester ist in die Drogensucht abgerutscht. Auch bei den Frauen kann er nicht punkten. Aber als professioneller Hacker – der Beste und Begehrteste in seinem Fach – wird er auf Händen getragen. Seine Aufträge in Israel und im Ausland werden politisch immer brisanter. Als er in einem europäischen Land ein Abhörsystem für Mobiltelefone installieren muss, um Regimekritiker ausfindig zu machen, kommen bei ihm erste ethische Skrupel auf. Einerseits redet er sich ein, nur seinen Job zu erfüllen – und andererseits kann er es immer weniger lassen, Sicherheitslücken von Smartphones mehr und mehr auch für private Zwecke zu nutzen … (Verlagstext)

Yishai Sarid „Schwachstellen“. Roman

Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama

Kein & Aber Verlag, 2023, 288 Seiten

ISBN: 978-3-0369-5016-7